: Chinesische Fantasien
In der Stadt Guanghzou hat die 2. Triennale begonnen, die mehr sein will als nur ein Kunstprojekt. Ihre Kuratoren haben sich viel vorgenommen: Nachhaltige Wissensproduktion soll angestoßen, urbane Prozesse sollen gebildet werden. Lässt sich die Kunst vom Rausch des Neuen in China mitreißen?
VON SASKIA DRAXLER
Ungefähr 40 bis 50 Millionen Menschen leben in den Städten Guangzhou, Zuhai, Shenzhen, Hong Kong und Macao in der tropischen Region des Pearl River Deltas in der südchinesischen Provinz Guandong. Ungefähr 10 bis 15 Millionen von ihnen sind aus dem Landesinneren zugewanderte MigrantInnen ohne rechtlichen wirksamen Status. Das ist ein Drittel der Beschäftigten der Region. Die starke Binnenmigration hat in China mit den Reformen Deng Xiaopings ab Ende der Siebzigerjahre begonnen.
„Die sozialistische Modernisierung ist eine tief greifende Umwälzung“, sagte der Staatsmann in einer richtungsweisenden Rede, „die den Austausch sämtlicher Führungs-, Handlungs- und Denkmuster erfordert, die Wachstum behindern.“ Gesagt, getan. Die Aufforderung „Bereichert euch!“ entfesselte ein ökonomisches Fight-Club-Szenario oder, wie François Jullien es einmal nannte, „eine von der Partei flankierte kapitalistische Bulimie“.
Das Pearl River Delta ist eine Sonderwirtschaftszone der ersten Stunde und gilt, das ist auch eine Regierungsparole, als das „Laboratorium“ für Chinas Rundumerneuerung. Trial and error ist hierbei durchaus Programm. Den UrbanismusforscherInnen, die sich von solchen Experimentierwiesen angezogen fühlen, erscheint das Ballungsgebiet als Laboratorium sozialer, aus authentischer Not geborener Fantasie. Die Faszinationsgeschichte, die das Phänomen der neuen asiatischen Städte bei ihnen entsponnen hat, erzählt von nie da gewesenen hybriden sozialen Formationen, metabolisierenden evolutionären Zellen, kreativem Chaos und superoriginellen Anpassungsstrategien.
„Beyond: an extraordinary space of experimentation for modernisation“ lautet der euphorische Titel der 2. Guangzhou Triennale, die bis Mitte Januar im dortigen Kunstmuseum läuft. Die Kuratoren Hou Hanru und Hans Ulrich Obrist haben sich vorgenommen, die üblichen Formate der Biennalen und Triennalen, die im Laufe des letzten Jahrzehnts zu einem weltweiten Netz von fly-in/fly-out-Events gewuchert seien, zu verlassen, um einen nachhaltigeren Prozess der kreativen Wissensproduktion anzustoßen. Ihr Ansatz findet vor allem in den seit letztem Jahr regelmäßig abgehaltenen so genannten D-Lab-Symposien Ausdruck, deren bemerkenswerteste Hervorbringung die Untersuchung „Urbanism of Victims“ des Teams um Yushi Uehara vom Berlage Institut in Rotterdam ist. Die Gruppe ist beim „Lesen“ von Shenzhen auf das Phänomen der „Dörfer in der Stadt“ gestoßen, die ehemals Bauerndörfer waren. Die Planung der Reißbrettstadt bestand aus einem infrastrukturellen Raster sowjetischen Stils. Die derart quadratisch gerahmten Flächen enthielten die Dörfer und ihr umliegendes Ackerland, das den Bauern zu Niedrigpreisen abgekauft und an Investoren verschachert wurde.
Der Status der Bauern unterscheidet sich seit Maos Landreformen in den Fünfzigerjahren von dem der Städter darin, dass die bäuerlichen Kollektive unbegrenztes Nutzungsrecht für das Land haben, das sie bewohnen und bearbeiten, was dessen Besitz nahe kommt. Städter dürfen zwar inzwischen Immobilien erwerben, aber keinen Grund und Boden. Da die Bauern ihr Ackerland an die Stadt abgetreten hatten, begannen sie, auf der Suche nach neuen Einkommensquellen, das selbst bewohnte Land kommerziell zu nutzen. Sie stockten ihre niedrigen Häuser auf und vermieteten den so entstandenen Wohnraum an zugewanderte MigrantInnen. Die erwirtschafteten Profite wurden in den Bau von neuen Apartmenthäusern am Rand der Dörfer investiert. Aus Bauern wurden Investoren, die ihre Kinder an ausländische Unis schicken; aus Dörfern innerstädtische Strukturen eines multikulturellen Zusammenlebens der Ärmsten, die den Autoritäten heute ein Dorn im Auge sind. Ironie der Geschichte: Der Bauer Mao wirft dem neuen Kapitalismus der Städter postum Knüppel zwischen die Beine. Das Phänomen des Dorfs in der Stadt lässt sich im Grunde in allen neuen chinesischen Städten beobachten.
Die Forschungsgruppe unternahm den Versuch, Dörfer, denen dieses Potenzial nicht bewusst ist, miteinander zu vernetzen, in der Hoffnung, dass sich aus der privatwirtschaftlichen Einzelinitiative eine politische Gegenmacht formiere. Sie scheiterten, wie Uehara meinte, am „niedrigen Bildungsniveau“ der Bauern-Investoren, die „zu keinerlei Abstraktion vom eigenen Leben fähig seien und für die schneller Profit das einzig erkennbare Handlungsmotiv sei“. Die nächste Generation gilt rechtlich schon nicht mehr als Bauern. Wenn die Kinder von den amerikanischen Elite-Unis zurück sind, wird es zu spät sein. Die chinesischen Stadtregierungen sitzen das Phänomen aus.
Wie bereits 1997 in ihrer wandernden Themenschau „Cities on the move“ geht es Hou/Obrist um einen angewandten Kunstbegriff, der sich aus der Kreuzung von Architektur und Design mit Kunst, Politik und Soziologie speist. Ziel ist, mit künstlerischen Strategien in urbanistische Prozesse „realitätsbildend“, wie sie sagen, einzugreifen. In einer „postplanerischen“ Suchbewegung sollen neue, unhierarchische Strukturen gefunden und in den kulturellen Kontext implementiert werden und zwar möglichst „beyond!“, das heißt, jenseits der Kunstwelt.
Als Paradebeispiel hierfür wird ausgerechnet die Erfüllung eines Architektentraums von Rem Koolhaas & Alain Fouraux vorgeführt. Das Time Museum, eine Filiale des Guandong Art Museums, blendet sich als Ausstellungsraum für moderne Kunst in das Szenario eines Apartmentkomplexes für die Nouveaux Riches ein: fünf Etagen Wohnen plus eine Etage Kunst. Da es sich bei diesem Apartmentsiedlungen meist um Gatet communities handelt, könnte man von „Kunst im privaten Raum“ sprechen. Weil Adel verpflichtet, bezieht die Kunst das Penthouse, jedenfalls im Modell. Denn das Programm des Time Museums soll der Mitbestimmung durch die Bewohner unterliegen. Es ist also anzunehmen, dass das Time Museum bald gewinnbringend verkauft wird, wahrscheinlich als Wohnung. Damit wäre zumindest die Verbindung von künstlerischer Intervention und lokaler Handlungsweise eingelöst. Sicher lassen sich dafür gute Preise erzielen. Denn Koolhaas ist in China noch viel berühmter als bei uns. Der Posterboy des experimentellen Urbanismus baut gerade die neue Zentrale von CCTV in Peking. Central China TV ist Organ der staatlichen Propaganda und Medienkontrolle. Spielend übertrifft Koolhaas’ Entwurf an einschüchternder Monumentalität jede Architektur der Regierungsmetropole.
Der Gebrauch des ultimativen Superlativs beyond offenbart den Wunsch, sich aus allen Erfahrungshorizonten herauszukatapultieren und vom Rausch des Neuen mitreißen zu lassen. In China lauert diese Versuchung zugegebenermaßen an jeder Ecke. So sollen bis zum Jahr 2015 allein tausend neue Museen gebaut werden! Wer möchte da nicht das tausendunderste erfinden? Es ist dem kuratorischen Konzept von Hou/Obrist aber anzulasten, dass es auf Kosten notwendiger Unterscheidungen surft. Eine symbolisch überfrachtete chinesische Politkultur übernimmt neue Schlagworte gern in ihr Repertoire und macht daraus Direktiven. Daher plötzlich dauernd beyond sein zu müssen, ist vermutlich kein Spaß. Die Ausstellungsmacher beziehen sich auf einen Kunstbegriff, der sich im Laufe der Neunzigerjahre weite Felder gesellschaftspolitischer Theorie einverleibt hat. Dem entspricht eine allgemein zirkulierende und durch „experimentelle Gewohnheiten“ institutionalisierte Vorstellung von künstlerischer Produktion nach dem Tool-box-Prinzip. Die KünstlerInnen sollen sich mit Vor-Ort-Erfahrung vollsaugen und dann ihren Fantasien freien Lauf lassen. So arbeitet aber heute bekanntlich jedes Managementbüro. Die Methode trifft nun im Klima der repressiven Toleranz, in dem das neue China erzwungen wird, auf einen bösen Zerrspiegel: Aus der zentralistisch gesteuerten Derregulierung der Märkte erfolgt die „Modernisierung“ brutaler Ausbeutungsverhältnisse. Darüber gibt es nichts zu fantasieren.
Der Installationskünstler Xu Tan hat für den Triennale-Garten eine 20 Meter hohe blau-weiß-rote Migrantinnentasche bauen lassen, die eine Karaoke-TV-Station beinhaltet. Das macht allen Spaß und sieht lustig aus. Dass die WanderarbeiterInnen, die die Arbeit aufgebaut haben, in der Ausführung schlampig waren, stört Xu Tan nicht. Um die Ecke haben sie gerade ihre blau-weiß-rote Wohnstatt abgebaut, die sie für die Zeit des Triennale-Jobs provisorisch errichtet hatten. Dort haben sie zwei Wochen lang gelebt und Didier Fiuza Faustinos begehbare Betonskulptur „Büro für Umtriebe“ gegossen. Zur gleichen Zeit war im Innern des Guandong Art Museums der Pekinger Künstler Zhu Jia damit beschäftigt, exakt eine solche WanderarbeiterInnenbehausung im Originalmaßstab skulptural nachzubilden. Warum hat er das nicht die Migrantinnen machen lassen? Und warum haben sie überhaupt von den künstlerischen Maßnahmen unbehelligt, ja, quasi unsichtbar und, wie es neuerdings richtig heißt, „gespenstisch“ ihrer Arbeit nachgehen können? Kunst verliert und versagt, wo sie direkt hineingreifen will ins Leben, wo sie in Konkurrenz zum Realen „Realität bilden“ will, statt sie in Frage zu stellen.