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Archiv-Artikel

Noch 96 Tage, dann …

Traditionell gewähren Journalisten jeder neuen Regierung eine Schonfrist von 100 Tagen, in der fair und sparsam mit Kritik umgegangen werden soll. Schön! Leider hält sich niemand wirklich daran

von GIUSEPPE PITRONACI

Welch ehrwürdiger Brauch: hundert Tage Schonfrist für jede neue Regierung. Medien und Opposition räumen ihr die Chance ein, sich erst mal einzufinden. Die Politiker der neuen Regierung müssen lernen, wie sie zu ihrem Büro kommen und wie die neue Arbeit funktioniert.

Es wäre unfair, so zu tun, als wären sie schon seit Jahren im Amt. Es wäre nicht fein, wenn die Zeitung schriebe, haha, der Minister weiß ja nicht mal, wie der stellvertretende Leiter seiner Unterabteilung heißt. Nach zwei Tagen. Und auch in den politischen Entscheidungen kann man am Anfang den ein oder anderen Fehltritt verzeihen.

Halt, schreien spätestens hier jeder Reporter und jeder Oppositionspolitiker. Die politischen Entscheidungen muss man natürlich immer gut beobachten und entsprechend bewerten. Da gibt’s kein Moratorium wegen Eingewöhnung. Politik ist eben der Beruf von Politikern.

In Wirklichkeit gilt die 100-Tage-Schonfrist nicht mal für unpolitische Startschwierigkeiten. Schon gar nicht in einer Mediengesellschaft. Wenn Merkel bei ihrem Frankreich-Besuch ein Knopf an der Jacke gefehlt hätte, hätten natürlich alle darüber berichtet. Wenn sie Frankreich die Freundschaft aufgekündigt hätte, wäre das angemessen kritisiert worden. Oppositionspolitiker wären auch hundert Tage arbeitslos, wenn sie die Regierung erst mal schonen würden. Alle Rituale in Politik und Medien würden nicht mehr funktionieren, würde die Schonfrist wirklich praktiziert.

Dass dennoch der Eindruck entsteht, es gibt diese hundert Tage, hängt damit zusammen, dass die Menschen in Politik und Medien normal handeln und reagieren. Nämlich archaisch. An jede neue Situation muss man sich gewöhnen. Man mustert sie erst mal, um im richtigen Moment angemessen reagieren zu können. Man will wissen, mit wem man es zu tun hat. Es ist fast, wie wenn Hunde sich begegnen und erst mal beschnüffeln müssen. Um dann erst zu entscheiden: bellen oder weglaufen.

Die Oppositionspolitiker und Reporter beobachten die neue Regierung mit etwas Distanz, um sie richtig einzuschätzen. Ihre Stärken und Schwächen rauszubekommen. Die hundert Tage Schonfrist dienen der Neubewaffnung.

Und um neue Kraft zu tanken. Viel Munition ist verpulvert worden im Wahlkampf, der diesmal ja noch Wochen nach der Wahl weiterging. Reporter haben sehr viel analysiert und kommentiert, Politiker sind quer durch die Republik gereist, um Kugelschreiber und Flugblätter zu verteilen. Alle sind erschöpft. Da fährt man erst mal sowieso mit gedrosselter Kraft weiter.

Aber wie viel schöner ist es, wenn man diese normalen menschlichen Handlungsweisen und Erschöpfungserscheinungen mit Bedeutung auflädt. Zum Beispiel durch eine Tradition. Ein „ungeschriebenes Gesetz“. Die mystischen hundert Tage Schonfrist. So bekommen sie Sinn. Wenn auch nur den, ein weiteres Ritual im polit-medialen Betrieb zu sein, mit dem man Inhaltsleere verkleidet.

Die hundert Tage Schonfrist sind ein Phantom, das funktioniert, indem man davon spricht und behauptet, dass es sie gibt. Man kann dieses Phänomen zusätzlich aufladen. Viele Zeitungen ziehen nach hundert Tagen eine erste kritische Bilanz über die neue Regierung. Der hundertste Tag nach Regierungsantritt: einer der vielen Anlässe, die sich Medien selbst produzieren, um Arbeit zu haben. Je nach Affinität können sie richtig losbashen oder beschwichtigen. Auch die Opposition hat dann Gelegenheit, draufzuhauen.

In Wirklichkeit haben sie alle nie echt aufgehört, diese Dinge zu tun. Rituale helfen eben, dass man sein Geld verdient. Achten Sie auf den 1. März.