Bildungsstreit in Baden-Württemberg: Der Kampf um die Kleinstschulen
Drei Gemeinden streiten sich um 24 Schulkinder. Die Regierung möchte die Kleinstschulen schließen, die Schüler in den nächsten Ort schicken. Doch die Bürgermeister kämpfen.
KUSTERDINGEN/WANNWEIL/KIRCHENTELLINSFURT taz | "Revolutionen verändern die Welt" steht über den Wandzeitungen der Neuntklässler. "Der Fall der Berliner Mauer war ein hystorischer Moment", schreibt einer. Auf ein zweites Blatt ist ein Zeitstrahl gezeichnet, neben dem Balken 2011 hat jemand mit Tinte vermerkt: "Tunesien, Ägypten". Ein Lehrer kommt und ergänzt: Libyen.
Auf den Härten von Kusterdingen steht die Grund-, Haupt- und Werkrealschule. Ruhig, friedlich, freundlich geht es zu.
Nirgendwo, so scheint es, ist man weiter von Umbrüchen und Revolutionen entfernt als hier im Südwesten der Republik. Die Baden-Württemberger sind die Klassenstreber der Nation, sie schneiden in jedem Bildungsvergleich glänzend ab, die Jobsuche ist unproblematisch bei 5 Prozent Arbeitslosigkeit.
Bürgermeister Soltau in Kusterdingen ist nicht allein. In ganz Deutschland nehmen die Bürgermeister die Schulpolitik selbst in die Hand. Der Zusammenhang ist immer der gleiche: Weil die dreigliedrige Schule mehr Schüler benötigt, als für die vielen Schulformen da wären, bestehen die Orte auf integrierten Modellen.
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Das ist im bayerischen Denkendorf und Kipfenberg genauso. Dort hat sich ein Förderverein Bildung-am-Limes.de gegründet, der eine Gemeinschaftsschule haben will, in der die Schüler vor Ort das Abitur erringen können. Diese Schulform aber gibt es in Bayern nicht, daher ist zwischendurch der Kultusminis- ter Spaenle (CSU) angereist, umden Aufstand niederzuschlagen. Vergeblich. Am heutigen Mittwoch stellen sich zwei Schulentwickler in Denkendorf vor.
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Noch weiter ist man in Jesteburg nahe Hamburg (schulkonzept.wordpress.com), wo die Leu- phana-Uni das Modell einer Kompetenzschule unterstützt, auch das eine Schule, in der man das Abitur wird erwerben können – irgendwann. In Jesteburg, wo täglich über 700 Schüler ausgefahren werden, stehen alle hinter der neuen Schule, der Bürgermeister, die Leute, die Schulleiterin – nur die Schulbürokratie nicht. Man trifft sich wieder: am 28. März 2011 um 19.30 Uhr im Gemeindehaus der St.-Martins-Kirche.
Doch der Schein trügt. Hier im Tübinger Regierungsbezirk streiten drei Gemeinden wechselseitig und mit dem Land um ihre Schüler. Die 38 Kusterdinger Werkrealschüler verteilen sich auf fünf Klassenzimmer, jedes einzelne von ihnen für über 30 Schüler bestuhlt. Die Zeiten als die Stühle alle besetzt waren, sind längst vorbei.
Landesregierung: Kleinstschulen nicht überlebensfähig
Kleinstschulen wie die in Kusterdingen sollen nach Vorstellung der Landesregierung auf Dauer nicht mehr überlebensfähig sein. Die Schüler sollen spätestens ab Klasse 8 ins benachbarte Kirchentellinsfurt zum Unterricht fahren. Die Gemeinde Kusterdingen will ihre Schüler aber behalten. Sie hat gegen das baden-württembergische Regierungspräsidium geklagt und im Dezember vor dem Verwaltungsgericht recht bekommen; seitdem ist die Stimmung gereizt zwischen Kusterdingen und dem Land, aber auch zwischen Kusterdingen und den Nachbargemeinden Kirchentellinsfurt und Wannweil.
Die schwarz-gelbe Regierung hat gegen das Urteil umgehend Berufung eingelegt - die Lokalzeitungen nennen die drei Gemeindeoberhäupter seitdem Werkrealschulrebellen. Weil und ein obrigkeitsstaatliches Durchgreifen vor der Landtagswahl negativ bei den Wählern ankäme, sucht man nach Kompromissen.
Die Frage, die es zu lösen gilt, ist höchst kompliziert: Wie sollen zwei Dutzend Schüler, die pro Jahr für die Werkrealschule bestimmt sind, also für das "Basismodell" im dreigliedrigen Schulsystem Baden-Württembergs, auf drei Gemeinden so verteilt werden, dass jede Gemeinde ihre Oberschule behält?
Modelle, die anmuten wie Rätsel für Hobbymathematiker, haben die Gemeinden und das Land ersonnen und verworfen. Wer sie kapieren will, muss wissen, dass a) das dreigliedrige Schulsystem in Baden-Württemberg heilig ist, b) die Werkrealschule zur Rettung der Hauptschule vor einem Jahr neu erfunden wurde und c) das Regierungspräsidium die Schulpolitik direkt lenkt.
"Wir werden das differenzierte Schulsystem nicht aufgeben, es hat sich bestens bewährt", sagt Stefan Mappus, CDU-Ministerpräsident Baden-Württembergs. "Die Weiterentwicklung der Hauptschule war ein voller Erfolg. Sie findet die Akzeptanz der Eltern und der Wirtschaft." Mappus redet auf der Bildungskonferenz der kommunalen Landesverbände. Seine Herausforderer, SPD Fraktionschef Claus Schmiedel und Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann nehmen die Bälle nicht auf, die Mappus ihnen zuwirft. Wenn auch in ihren Wahlprogrammen das gemeinsame Lernen bis Klasse 9 und Gemeinschaftsschulen stehe, hier wollen sie die Reaktion darauf nicht testen. Knapp 1.000 Gemeindevertreter sind zusammengekommen und hören Mappus respektvoll zu. Die Botschaft ist angekommen.
Draußen vor der Tür sind sie weniger folgsam: "Wir verfolgen diesen Rechtsstreit", sagt ein Gemeindevertreter. "Wenn die damit durchkommen, dann hängen wir uns mit dran." Das heißt: Dann bleibt die Schule im Dorf.
Schulsterben steht bevor
Es gibt nämlich einen Haken bei der Fortschreibung der Hauptschule zur Werkrealschule: Die neuen Werkrealschulen sollen pro Jahr zwei neue Klassen aufnehmen. Nach Auskunft des Regierungspräsidiums gibt es derzeit noch 370 einzügige Hauptschulen. Ein großes Schulsterben steht bevor.
Als die Werkrealschule eingeführt wurde, waren die besagten drei Gemeindeoberhäupter noch optimistisch, aus ihren drei Hauptschulen zwei Werkrealschulklassen machen zu können. Das "Bürgermeistermodell" war geboren: Wannweil und Kirchentellingsfurt teilen sich eine der beiden Werkrealschulklassen, Kusterdingen bekommt die andere Klasse. Aber der Exodus der alten Hauptschule geht auch unter einem neuen Label weiter. Aus Kirchentellinsfurt (5.600 Einwohner) sind acht Schüler in diesem Schuljahr für die Werkrealschule angemeldet, aus Wannweil (5.000 Einwohner) kommen zwölf, und in der Gemeinde Kusterdingen (8.000 Einwohner) bilden sechs Schüler die Klasse 5.
"Es gibt eigentlich nicht mal mehr genug Schüler für eine Klasse", stellt der Kirchentellinsfurter Bürgermeister Bernhard Knauss nicht ohne Bitterkeit fest. Knauss ist auf Bitte von Kollegin Anette Rösch in Wannweil. "Bernhard, ich nehm deinen Mantel." Sie kennen sich, sie können gut miteinander.
Rösch leitet seit 17 Jahren die Geschicke von Wannweil, Knauss ist fast doppelt so lange in Kirchentellinsfurt im Amt. "Wer sich als Bürgermeister ordentlich aufführt und seine Pflicht tut, wird immer wiedergewählt", sagt er und nickt dazu.
Hier im Neckar-Tal sichert das Gewerbegebiet im Tal die Einnahmen, und die Professorenvillen auf den Hügeln heben das Bildungsniveau. Mehr als die Hälfte der Oberschüler fährt jeden Morgen mit Bus oder Bahn nach Tübingen oder Reutlingen und in eines der dortigen Gymnasien.
Die Realschule von Kirchentellinsfurt schluckt noch einmal einen Schwung, die Werkrealschule ist eigentlich überflüssig. "Es funktioniert nur, wenn sich die Schulen aller drei Gemeinden zusammenschließen", sagt Anette Rösch. Sie presst die Lippen entschlossen aufeinander. Aber der Kusterdinger Bürgermeister, der Dr. Soltau, wie sie ihn im Wannweiler Rathaus distanziert nennen, beharrt weiter auf zwei getrennten Standorten - und das vor Gericht. Wannweil/Kirchentellinsfurt und der Dr. Soltau sind seither über Kreuz.
Im Rathaus von Kusterdingen hängen die Amtsvorgänger. Man fragt sich, ob der Dr. Soltau auch pflichtbewusst guckt und zu welcher Seite der Scheitel gekämmt ist. Jürgen Soltau, so stellt sich heraus, hat kurze Haare und Dreitagebart. Er macht Witze über die Schwaben. "Wer hat den Kupferdraht erfunden? - Zwei Schwaben, die sich beide nach einem Kupferpfennig bückten."
Er legt den Vertrag, mit dem die Bürgermeister Anfang 2010 ihren Pakt besiegelt haben, auf den Tisch - drei Unterschriften für das Bürgermeistermodell. "Ich hatte wirklich gedacht, wir fechten das zusammen aus." Er lächelt nun nicht mehr.
Soltau ist dennoch entschlossen, dem Land weiter vor Gericht zu trotzen. Sein Gemeinderat steht geschlossen hinter ihm: "Bildung ist ein wichtiger Standortfaktor."
Im Werkrealschulstreit geht es weder um Pädagogik noch um Bildungschancen, es geht um Strukturpolitik.
Ein Rebell ist Soltau nicht. Er käme nie auf die Idee, die Hauptschule ganz abzuschaffen und die Grundschüler nach Klasse 4 gemeinsam weiter zu unterrichten, wie es 2007 ein Trupp von Hauptschulrektoren, die "oberschwäbischen Rebellen", forderten. "Das wäre ja eine Gesamtschule, das dürfen Sie nur in negativem Zusammenhang schreiben, sonst spitzen die in Stuttgart gleich die Ohren."
Um die Werkrealschulen in Kirchentellinsfurt und Kusterdingen zu besuchen, bedarf es einer Genehmigung des Regierungspräsidiums. Da es sich um ein schwebendes Verfahren handele, dürfen Lehrer und Schüler auch nicht interviewt werden. Aber Brunhilde Georges, Schulleiterin des Schulverbundes in Kirchentellinsfurt und der Werkrealschulaußenstelle in Kusterdingen, darf sprechen.
Ende der Hauptschule unwahrscheinlich
Ob die Werkrealschule eine Zukunft hat? Sie überlegt nicht lange: "Die Eltern meiden alles, was nach Hauptschule riecht. Das Fernziel aller Eltern sind das Abitur und der Hochschulabschluss für ihre Kinder", sagt die Rektorin, während sie ihren Wagen zum Kusterdinger Außenposten steuert. Das gelte auch für ihre Werkrealschüler, die meisten von ihnen türkischer Herkunft. "Die sind oft sehr ehrgeizig, der einzige Nachteil, den sie haben, ist, dass ihre Eltern ihnen nicht so viel helfen können wie unsere Eltern."
Dass sie das Ende der Hauptschule bis zur Pensionierung noch erleben wird, bezweifelt sie allerdings: "Wir sind hier in Baden-Württemberg, da ist die Dreigliedrigkeit Gesetz." Rösch könnte sich schon vorstellen, dass aus Werkreal- und Realschule in nicht allzu ferner Zukunft eine Schule wird. "Natürlich wird sich unter der jetzigen Regierung nichts ändern", sagt die Wannweiler Bürgermeisterin schnell. Aber das sei doch schon ein echter Fortschritt, dass die Werkrealschüler nun unter dem Dach der Kirchentellinsfurter Realschule lernten. Und sagt mehr zu sich selbst: "Wenn sich mal was ändert, dann sind wir gerüstet.
Am Sonntag wird in Baden-Württemberg gewählt. Manchmal ist die Revolution ja schneller da, als man ahnt.
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