Das Erbe von Napoleon

RUSSLAND Die ex-sowjetischen Länder sind für Touristen aus Europa immer noch eine Terra incognita mit Gruseleffekt

BERLIN taz | Im beschaulichen russischen Städtchen Smolensk, nahe der Grenze zu Weißrussland, lassen sich Touristen gern die alte Festungsmauer zeigen. Dort treiben des Nachts die Seelen der Falschmünzer ihr Unwesen, und der Legende nach liegt hier eine goldene Kutsche vergraben. Hinterlassen wurde sie 1812 von Napoleon, der sie mit vielen anderen Schmuckstücken auf seinem Feldzug durch ganz Europa zusammengestohlen hatte.

Geschichten wie diese gibt es im postsowjetischen Raum immer wieder. Es mangelt nicht an exotischen Orten, an denen das Leben absolut anders verläuft, als es die meisten Europäer das von zu Hause kennen.

Doch ihr Interesse, in den Ostblock zu reisen, geht gegen null. Die meisten wissen nichts über die schönen Reiseziele, die sie an der Wolga, im Altai-Gebrige oder am Baikalsee erwarten. Nur wenige ahnen, was dieses riesige Territorium, das sich von den Karpaten bis zum Stillen Ozean erstreckt, an Natur, Kunst und Kultur zu bieten hat.

Doch die Unkenntnis geht oft auch mit Angst einher. „Verwandte und Freude wollten mich nicht nach Russland fahren lassen. Sie haben mich verabschiedet, als würde ich niemals wieder zurückkommen“, erinnert sich der Berliner Beamte Bernd Brittner an seine erste Smolensk-Reise vor drei Jahren. „Ich hatte absolut keine Vorstellung, wie die Leute in Russland leben. Doch nach meiner Reise habe ich verstanden, dass das Leben überall gleich ist. Es gibt für mich heute keinen Grund mehr, Osteuropa zu meiden.“ Allerdings fehle es in Europa an vernünftiger Werbung für den Osten, meint er.

„Die meisten Deutschen interessieren sich nicht für diese Länder. Sie können sich einfach nicht vorstellen, was sich hinter den Grenzen der Eurozone verbirgt, und denken, es sei dort gefährlich“, sagt Gabi Coldeway. Sie hat selbst zehn Jahre im Tourismus gearbeitet. „Viele haben schon von jenem Land namens Russland gehört, und von seiner Hauptstadt Moskau. Aber Weißrussland und die Ukraine gibt es für sie schon nicht mehr.“

Coldeway teilt die Osteuropareisenden in drei Kategorien: Wenige Intellektuelle, die sich für diesen Teil Europas besonders wegen seiner klassischen Literatur interessieren. Sie würden das Land meist bei ruhigen Flussfahrten erkunden. Die zweite Art Reisende seien deutsche Übersiedler, die früher in der Westukraine oder Bessarabien gelebt haben. Die dritte Gruppe reist zu Verwandten und Freunden.

In jedem Fall ist eine Reise in die Länder der ehemaligen Sowjetunion ein Abenteuer. Wenn die Reiseagenturen mehr werben würden, wäre wohl auch die Zahl der Gäste höher. Denn eigentlich ist alles ganz einfach: Visum holen, Ticket kaufen, packen und los. In den Ländern warten reiche und ungewöhnliche Geschichten, die eng mit der deutschen Historie verknüpft sind, und Einwohner, die stets ein Herz für Gäste haben. MICHAIL YEFIMKIN