: Mord ohne Risiko
AUS GUATEMALA-STADTWOLF-DIETER VOGEL
Ob er es eines Tages erfahren wird? Ob er jemals wissen wird, wer sie getötet hat? Und warum? Victor Corzo, ein junger Mann, steht fassungslos vor der Leiche seiner Mutter. Die 51-Jährige liegt an diesem Sonntagabend gegenüber ihrer Wohnung am Rand einer Straße mitten in Guatemala-Stadt. „Sie hat sich niemals mit jemandem angelegt“, sagt er. „Warum haben sie das getan?“
Wie oft bei einem Frauenmord sind zuerst die Feuerwehrleute am Tatort. Die Polizei von Guatemala-Stadt lässt auf sich warten. Drei Frauen stehen da und weinen – Nachbarinnen der Ermordeten. „Sie kam von der Messe,“ sagt eine und schlägt die Hände vors Gesicht. Fünf Schüsse haben die Täter auf Enma Inés Corzo abgegeben, drei davon in den Kopf. Dann sind die Mörder mit einem Motorrad verschwunden, zwischen den unzähligen Bussen und Lastwagen, die sich wie lärmende Monster auf den Straßen drängen. Zumindest tagsüber. Nachts fährt im Zentrum von Guatemala-Stadt selten ein Bus. Schon das Warten an der Haltestelle ist zum Risiko geworden.
In der Ombudsstelle für Menschenrechte zieht die Menschenrechtlerin Anabella Noriega einen mit Zeitungsartikeln gefüllten Ordner vom Regal. „Mindestens jeden Tag ein Fall“, sagt sie. Die Opfer: Hausfrauen, Studentinnen, Arbeiterinnen, Prostituierte, auch weibliche Mitglieder der „Maras“ genannten Jugendbanden. „Feminizid“ nennen Menschenrechtsorganisationen die Serien von Frauenmorden in Mittelamerika (siehe Kasten). „In den letzten fünf Jahren wurden 1.900 Frauen und Mädchen ermordet“, erläutert Annabella Noriega. Tendenz steigend: Mit bald 600 Morden in diesem Jahr hat sich die Zahl seit 2002 fast verdoppelt. „Aber nur in sechs Fällen kam es zu Verurteilungen“, ergänzt Noriega. Ständig ist die Mitarbeiterin der für Frauen zuständigen Abteilung der Ombudsstelle mit diesen Meldungen konfrontiert: „Frau angegriffen“, „Frauenleiche im Fluss gefunden“ oder „Körper einer gesteinigten Frau entdeckt“. Sie sammelt die Texte als Beweis des Grauens. Damit überhaupt jemand den Überblick behält.
Kampf ums Überleben
Die Behörde im Hinterhof eines kleinen kolonialen Gebäudes ist eine Art Zentrale für viele Organisationen, die sich um die Feminizide kümmern. Zwei Räume, zwei Schreibtische, stapelweise Papier und ein Telefon, das ständig klingelt. An diesem Vormittag muss Noriega mit ihren beiden Kolleginnen noch Flugblätter für eine Veranstaltung für Schülerinnen falten. Das Thema: Wie schütze ich mich vor gewaltsamen Übergriffen.
Dann steht der Besuch bei Alma de Villator an. Deren Tochter Cora wurde im vergangenen Jahr umgebracht. Die Frau wohnt in Villa Nueva, einem jener Vororte, der zu den gefährlichsten Gegenden der Stadt zählt. Eine kleine Tür in der hohen Mauer führt in den Garten. Dort sorgt ein an eine Kette gelegter Wachhund dafür, dass niemand ungebeten weitergehen kann. Das Haus von Alma de Villator wirkt, als wäre es als Versteck gebaut werden. „Nein, früher haben wir hier glücklich gelebt,“ sagt sie. „Doch mit Cora habe auch ich mein Leben verloren.“ Abgemagert, mit eingefallenen Wangen und tiefen Ringen unter den Augen sieht Alma de Villator erschöpft aus. Das letzte Foto ihrer 21-jährigen Tochter zeigt eine junge Frau, wache Augen, lange dunkle Haare. „Sie hat studiert und als Modell gearbeitet.“ Dann zeigt sie auf ein Bild in einer vergilbten Zeitung: „Der war es, der hat meine Tochter umgebracht.“
Davon war nicht nur die Mutter überzeugt. Auch die örtlichen Strafverfolger hielten den Mann für den Täter. Dann sei der Fall der Staatsanwaltschaft von Villa Nueva entzogen und der in Guatemala-Stadt übergeben worden. Warum, weiß sie bis heute nicht. Jedenfalls ging von da an nichts mehr. Alma de Villator schaffte selbst Beweise herbei, doch die Strafverfolger habe das nicht interessiert. „Sie sagten, das sei nicht nötig“, erinnert sie sich. Dann der einzige Anruf, nach vier Monaten: Der mutmaßliche Täter werde freigelassen, informierte die Behörde. Mangels Beweisen. Seitdem hat Coras Mutter ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit aufgegeben. „Die Eltern des Täters haben den Staatsanwalt geschmiert“, sagt sie resigniert. Ihre vier Wände verlässt sie kaum noch.
Draußen kämpft jeder auf seine Art ums Überleben. Alte Frauen bieten auf einem Stück Stoff ein paar Bananen feil, Jugendliche verkaufen raubkopierte CDs, junge Männer betteln um ein paar Quetzales, die Währung Guatemalas. Die Fahrt zurück ins Zentrum von Guatemala-Stadt führt vorbei an armseligen Häusern, die sich Berghänge hinaufziehen. Ein Wirrwarr von Stromkabeln hangelt sich von Holzmast zu Holzmast, unbefestigte verschlammte Wege verbinden marode Hütten, eine Straßenbeleuchtung sucht man vergeblich. „Das sind die Orte, in denen viele ermordete Frauen aufgefunden werden“, sagt Norma Cruz von der Associación de Sobrevivientes, der Gruppe der Überlebenden: Müllplätze, dunkle Straßen, verlassene Gelände. Häufig weisen die Leichen Merkmale auf, die darauf hindeuten, dass die Täter ihre Opfer vor dem Tod vergewaltigt und gefoltert haben. „Es gab Fälle, in denen wurde 78 Mal auf die Frauen eingestochen, an sehr symbolischen Stellen: in die Brüste oder in den Unterleib“, berichtet Cruz. Immer wieder werden Reste verstümmelter Körper in Plastiktüten abgelegt.
Warum diese Brutalität? Die Aktivistin erinnert an die Zeit des 36-jährigen Bürgerkrieges, der vor neun Jahren zu Ende ging. Das Vorgehen der Täter heute sei sehr ähnlich, sagt sie. „Schon damals galten Frauen als Freiwild, als Trophäe des Gegners.“ Cruz hat das Büro der „Überlebenden“ in ihrer Wohnung eingerichtet. Gerne würde sie einen Raum mieten, doch dafür fehlt das Geld. Nun sei auch noch der Computer mit allen Daten abgestürzt. Monatelange Arbeit umsonst. „Das größte Problem ist die Straffreiheit, die Männer werden ja geradezu zum Morden eingeladen“, sagt Cruz. Sie berichtet von den vielen Angehörigen, mit denen ihre Gruppe arbeite. Etwa von Rosa Franco, deren 15-jährige Tochter Maria Isabel vor vier Jahren tot aufgefunden wurde. Bis heute wird in dem Fall nicht ermittelt. Die Strafverfolger nähmen einen nicht ernst, wirft eine Mitstreiterin der „Überlebenden“ ein. „Sie lachen über dich. Sie erklären dir, dass du sicher irgendwas getan hast, um die Vergewaltigung zu provozieren.“
Dabei wurde im April vergangenen Jahres bei der Zivilen Nationalpolizei eine Sondereinheit geschaffen – nachdem die UNO-Beauftragte für Gewalt gegen Frauen, Yakin Ertürk, das Land besucht und ein schärferes Vorgehen des Staates eingeklagt hatte. Versteckt im obersten Stock des Polizeipräsidiums weist ein notdürftig mit Tesafilm angebrachter, schlecht kopierter Zettel den Weg: „Einheit gegen Frauenmorde“. Ein großer Raum, kalt, die blaue Farbe blättert von den Wänden. Zwei Männer und eine Frau sitzen um einen riesigen Tisch, auf dem das einzige Telefon und der alte Computer ziemlich verloren wirken. „Unsere logistischen und personellen Ressourcen sind ziemlich begrenzt“, räumt Behördenchef Julio Roberto Mendez Hernández ein. Dennoch habe man viel im Kampf gegen die Feminizide erreicht. Gleichgültigkeit? Straflosigkeit? Der Beamte versteht die Frage nicht, doch seine Kollegin scheint den Vorwurf nicht zum ersten Mal zu hören. Als habe es etwas mit der Frage zu tun, schimpft sie los: „Erst kommen die Eltern an und behaupten, ihre verlorenen Töchter seien harmlose Mädchen. Und dann, im Leichenschauhaus, sieht man, dass der ganze Körper tätowiert ist und sie bei den Maras waren.“
Die Opfer als Prostituierte, Kriminelle, Drogensüchtige – häufig berichten Angehörige, wie Polizisten sie und ihre tote Mutter, Schwester oder Tochter verhöhnen. Über die tatsächlichen Hintergründe weiß man angesichts fehlender Ermittlungen wenig. Strafverfolger Renato Durán von der Staatsanwaltschaft für Delikte gegen das Leben macht „Maras“ für rund 60 Prozent der Morde verantwortlich. Wichtig sei auch die innerfamiliäre Gewalt. „Viele Zeugen wollen aus Angst vor Repressalien in den Prozessen nicht aussagen, selbst wenn das Opfer eine Angehörige war.“ Auch seine Mitarbeiter seien schon bedroht worden, sagt Durán. „Das geht von Gruppen aus, die ziemlich viel Macht haben und folglich auch einen Richter oder Staatsanwalt neutralisieren können.“
Erbe des Bürgerkriegs?
Darauf ist man auch in der Ombudsstelle für Menschenrechte vorbereitet. Wer das Gebäude betritt, muss sich von Metalldetektoren durchchecken lassen und Sicherheitsschleusen passieren. Auf der Straße patrouillieren mehrere bewaffnete Beamte. Ombudsmann Sergio Morales meint, zumindest hinter einem Teil der Morde steckten aus Bürgerkriegszeiten herrührende „parallele Mächte“. „Wir gehen von einem Netz des organisierten Verbrechens von mindestens 15.000 bis 20.000 Menschen aus, das viele umfasst: Polizisten, Militärs, Politiker, Richter, Drogendealer, Jugendbanden.“ Die „Maras“ seien oft nur die ausführenden Marionetten.
Was tun? „Die korrupten Strukturen innerhalb der Polizei müssen angegangen werden“, sagt Morales. Außerdem müsse viel mehr Geld für die Ausbildung von Beamten und Menschenrechtsarbeit zur Verfügung gestellt werden. Dann kommt er auf die Situation seines Landes zu sprechen: auf den Analphabetismus, auf die fast 80 Prozent Armen, auf die Verrohung, die der Krieg in der Gesellschaft hinterlassen haben. „Das Problem ist, dass hier nichts und niemand mehr etwas wert ist.“