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Archiv-Artikel

Ein Mörder und seine Epoche

Familiäres Trauma: Mit „Im Schatten eines Verbrechens“ begibt sich die schwedische Autorin Helena Henschen auf die Spur der von ihrem Onkel begangenen „Sydow-Morde“

von KATHARINA GRANZIN

Am 7. März 1932 geschieht eines der Aufsehen erregendsten Verbrechen der schwedischen Kriminalgeschichte. In einer großbürgerlichen Stockholmer Wohnung werden drei Menschen erschlagen aufgefunden: der Reichstagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes, Hjalmar von Sydow, sowie die Köchin und das Dienstmädchen der Familie. Der Mörder: Fredrik von Sydow, Hjalmars 23-jähriger Sohn, Student an der Universität von Uppsala. Am Abend desselben Tages wird er, zusammen mit seiner Frau Sofie, von der Polizei gestellt. Bevor er verhaftet werden kann, schießt er zuerst Sofie, dann sich selbst in den Kopf.

Die Unfassbarkeit dieses Verbrechens sorgte dafür, dass die kollektive Erinnerung daran in Schweden lange nicht verjährte. Nur in der Familie von Helena Henschen durfte nie über die „Sydow-Morde“ gesprochen werden, denn der Täter war der Bruder ihrer Mutter, der ermordete Hjalmar von Sydow der Großvater der Autorin. Erst mit fünfzehn Jahren erfährt das Mädchen zufällig von den Zusammenhängen. Im Laufe der Zeit fasst die erwachsene Helena den Vorsatz, Licht in die rätselhaften Geschehnisse zu bringen und schreibend das Familientrauma zu überwinden. Der Grafikerin und Kinderbuchautorin ist dabei ein außergewöhnliches Buch gelungen. Sie maßt sich nicht an, das Unbegreifliche erklären zu können, bettet jedoch ihre spannende Erzählung einer großen Familientragödie so hellsichtig in den historischen Kontext ein, dass dabei das fesselnde Porträt einer ganzen Epoche entsteht – das Bild Schwedens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des großen gesellschaftlichen Umbruchs. Einen „Roman“ nennt Henschen – oder ihr Verlag – das Buch, doch ist dies eher eine Kategorienzuweisung aus Hilflosigkeit: ein Gefühl, das die Autorin empfunden haben muss, als sie feststellte, dass alles persönliches Material, auf das sie die Recherche hätte stützen können, nicht mehr existierte.

Henschens Mutter, zum Zeitpunkt der Morde noch ein Teenager, hatte nicht nur sämtliche Spuren des Bruders im Fotoalbum getilgt, sondern irgendwann auch die Kisten mit den schriftlichen Zeugnissen seiner Existenz und ihres eigenen früheren Lebens – Tagebücher, Notizen, Briefe – vernichtet.

Nach Dänemark ausgewandert, um dem Trauma zu entkommen, ist es ihr zeitlebens unmöglich, das Tabu zu überwinden und mit der Tochter über das Geschehene zu sprechen. Henschen bleibt nur der Weg einer langwierigen Recherche in Archiven und an Originalschauplätzen.

Vielleicht aus der Not eine Tugend machend, vielleicht auch dem Instinkt folgend, dass dies die einzig angemessene Art ist, sich ihrem Thema zu nähern, macht Henschen die Recherche, das Schreiben und die eigenen Gefühle dabei selbst zum Thema. Das ist so einfach wie genial. Ihr Buch ist ein so wahrhaftiges Zeugnis der Dinge, von denen es handelt, weil sie sich nicht hinter der Maske der Chronistin verschanzt, sondern ihr Möglichstes tut, die eigene Rolle beim Erzählen und die Subjektivität ihrer Interpretation der Geschehnisse stets offen zu legen. Häufig genug wird sie tatsächlich zur Autorin eines Romans, stückchenweise erzählt zwischen Recherchebericht und Wiedergabe von Originaldokumenten.

Es bleibt Henschen gar nichts anderes übrig, als die wichtigsten Teile der Erzählung zu imaginieren, denn auf die zentralen Fragen gibt das Archivmaterial keine Antwort. Wie konnte aus dem brillanten, beliebten, wenngleich exzentrischen Jugendlichen Fredrik von Sydow ein hoch verschuldeter, kokainsüchtiger Alkoholiker werden, der stets am Rande des Selbstmords steht? Was geschah in der Kindheit von Fredrik und Sofie – Sprösslinge aus Schwedens Geldadel, beide eigensinnig und verwöhnt, aber mutterlos und emotional vernachlässigt? Wie lernen sie sich kennen und lieben? Was fühlt die 19-jährige, von Fredrik schwangere Sofie, als man sie zwingt, ihr Kind einer Pflegemutter anzuvertrauen?

Eine frühe Heirat, die einer Sondererlaubnis bedurft hätte, scheitert am Widerstand beider Väter, Patriarchen vom alten Schlage. Als das Paar zwei Jahre später endlich heiraten kann, reicht Sofie bald darauf die Scheidung ein. Dennoch kommt sie nicht von Fredrik los. Sie begleitet ihn sogar auf der Flucht, nachdem er zum Mörder geworden ist. Will sie verhindern, dass er sich und sie umbringt, bevor er von der Polizei gestellt wird?

Helena Henschen kann diese Annahme ebenso wenig beweisen wie ihre große, unausgesprochene Grundthese, die sich – unaufdringlich, aber deutlich – durch das Buch zieht. Nicht gerade die Ehrenrettung des Fredrik von Sydow strebt seine Nichte an, doch ist es ihr ein verständliches und ehrenwertes Anliegen, seine grauenhaften Taten aus Lebensbedingungen und Zeitumständen heraus annähernd nachvollziehbar zu machen: Kein Täter ist so sehr Monster, dass er nicht auch Mitgefühl wecken könnte. Man wird nicht gezwungen, ihrer Sichtweise zu folgen, aber es fällt leicht, damit zu sympathisieren. Ein menschlich unerhört kluges Buch.

Helena Henschen: „Im Schatten eines Verbrechens“. Die Sydow-Morde. Roman. Aus dem Schwedischen von Angelika Gundlach. Insel Verlag, Frankfurt 2005, 271 S., 19,80 Euro