Himmelwärts im ersten Gang

Eine unerlaubte Fahrradreise nach Tibet. Schnaufend zu den höchsten Gipfeln der Welt. Wild verfolgt von hungrigen Hunden und freundlich begrüßt von neugierigen Menschen, die Satteltaschen aus-, aber auch wieder einräumen

von RALPH SCHELLE

Tibet auf dem Landweg – das dauert. Zuerst geht es mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk. Das sind ein paar tausend Kilometer im Tempo eines senilen Stadtbusses, zehn Tage in einem Zug, in dem es weder eine ernst zu nehmende Waschmöglichkeit gibt noch die Chance, irgendein Fenster zu öffnen. Rührende Abteilgenossen versorgen mich mit Geschichten, Verpflegung und mit ihrem Lächeln. Immer nach Osten geht es, lange, durch nicht enden wollendes grünfreies Sibirien, oft begleitet von Reisebudget verzehrenden Forderungen russischer Polizeibeamter. Am Baikalsee steige ich um, fahre südwärts, noch mal drei Tage durch den feinen Sand der Mongolei, bis ich endlich das quirlige China erreiche.

In Lanzhou, einer lausigen chinesischen Großstadt, steige ich aus und packe mein in Einzelteile zerlegtes Fahrrad aus. Mit seinen 27 Jahren hat es ausreichend Erfahrung mit der üblen Topografie um Stuttgart – und dürfte Himalaja-tauglich sein. Ich schraube alles zusammen, hänge die Packtaschen ein, spanne Zelt und Schlafsack drauf. Und starte zuversichtlich in die schroffen Gebirgszüge des Min.

Vor mir liegt Tibet. Das Land mit den höchsten Bergen der Welt, von dem die Chinesen glauben, es sei ihres. Tibet, wo die Luft dünn, der Schnee gleißend und der Glaube rotbackiger Menschen überall präsent ist.

Die Einreise in das osttibetische Gebiet ist Individualtouristen ohne Ausnahmegenehmigung strikt verboten. Auf den Zufahrtsstraßen gibt es dicke Schranken, an denen junge Soldaten mit Maschinenpistolen die Fahrzeuge und Insassen kontrollieren – wie kann ich hier bloß ungeschoren vorbeikommen?

Gleich am ersten Schlagbaum erwischt es mich: Mit schroffen Tönen werde ich von einem Uniformiertem angeherrscht und in dessen Büro gezogen, auf einen schmalen Holzstuhl platziert, links und rechts flankiert von steif stehenden Soldaten. Der Uniformierte verschwindet im Nebenzimmer. Als er zurückkommt, hält er in einer Hand eine Teekanne, in der anderen eine Packung Kekse. Es sei so langweilig an dieser Kontrollstation, sagt er, ich solle ihm etwas über mein Land erzählen. Soweit es mein bruchstückhaftes Mandarin zulässt, erzähle ich. Wenn man die Mimik einsetzt, geht es auch auf Deutsch. Und die Kontrolle? Die Ausnahmegenehmigung? Niemand möchte die Papiere sehen, die ich nicht habe. Nach einer Stunde fahre ich weiter. Sie winken mir nach.

Jetzt geht es bergauf, lange bergauf, im achten Gang, bei 19 Grad und allerbester Laune. Langsam entkomme ich den Schwaden chinesischer Kohlekraftwerke und den tiefschwarzen Rußfahnen schnaubender Lkw. Klick. Siebter Gang. Es geht bergauf und bergauf und bergauf. Richtig schnell bin ich nicht. Das kann auch von Vorteil sein. Denn in Tibet gilt: Je langsamer du fährst, desto schneller bist du da. Mehrmals denke ich, dass ich nun aber wirklich oben sei, aber immer geht es weiter bergauf.

Irgendwann, nach einem ganzen Tag im ersten Gang, nach stundenlangem Japsen glaube ich bereits das Blau des Firmaments zu streifen. Wer auch immer hier wohnt, er ist dem Himmel sehr, sehr nahe.

Die erste größere Stadt liegt auf 2.920 Metern und heißt Xiahe. Im Wind flattern bunte Fahnen und rote Mönchsroben. Xiahe besteht zur Hälfte aus Klosteranlagen. Wie 6.000 weitere in ganz China wurden sie während der Kulturrevolution teilweise zerstört. Nun sind Restaurationsarbeiten im Gange, und es scheint, dass das Kloster langsam wieder das wird, was es einmal war: ein Symbol tibetischer Kultur. Nur die Polizeifahrzeuge mit ihren schwarz getönten Scheiben, die in Schrittgeschwindigkeit durch die Klosteranlagen schleichen, verbreiten Unbehagen. So wie das tibetische Standardgetränk: Buttertee. Das ist eine stark gesalzene Flüssigkeit, in der ein ansehnliches Stück ranziger (und zuweilen schimmliger) Yakbutter schwimmt. Dazu gibt es meist Tsampa, ein Gemisch aus geröstetem Gerstenmehl und Fett. Gemüse und Obst sucht man weitgehend vergeblich – zu rau die Witterung, zu karg der Boden, zu archaisch die Anbaumethoden, zu beschwerlich der Transport.

Hinter Xiahe stoße ich auf seltsame kleine Häuschen, die über schmalen Gebirgsbächen stehen. Unter ihnen drehen sich Wasserräder. Die Neugier treibt mich zu näherer Untersuchung: Mahlen sie hier ihr Gerstenmehl, sägen sie mit Wasserkraft Holz oder wird gar ein Stromgenerator angetrieben? Ein Blick in das Innere der Häuschen verrät das Geheimnis: Mühlen sind es, die angetrieben werden – Gebetsmühlen.

Auf dem Weg von Amdo nach Kham (heute in den Provinzen Gansu und Sichuan) wird die Gegend wilder, werden die Bäche kälter, die Yaks zotteliger, meine Lippen aufgesprungener und die Straßen zur Ahnung. Und stets zementieren Tibeter den ihnen vorauseilenden Ruf: nicht ein Ort, an dem ich nicht willkommen geheißen und eingeladen werde. Halte ich an, betasten sie meine behaarten Arme, bestaunen sichtbare Adern und meine Notizblöcke mit den seltsamen Schriftzeichen. Auch meine Schuhe, Größe 45, geben Anlass zu großer Heiterkeit. Und immer geraten zwei Ausrüstungsgegenstände meines betagten Fahrrads in den Mittelpunkt: ein alter mechanischer VDO-Tachometer und ein Dynamo-betriebenes Fahrradlicht. Alles wird untersucht. Die Neugier der Tibeter geht einmal so weit, dass eine Ziegenhirtin mit ihren Töchtern kurzerhand meine Packtaschen komplett ausräumt. Weil die Tibeter nette Menschen sind, räumen sie auch alles wieder ein.

Sind alle nett? Nicht ganz. In Tibet gibt es Hunde. Viele. Wilde. Mehrmals täglich werde ich attackiert, wie ich es noch nie erlebt habe. Vor Bissen habe ich weniger Angst, vor eventueller Tollwut reichlich. Denn in den Bergen gibt es keine medizinische Versorgung – und keine Möglichkeit, schnell in die nächste Stadt zu gelangen. Ich überlege ernsthaft, meine Reise abzubrechen.

Als ich wieder von einer besonders großen und wilden Bestie attackiert werde, entdecke ich die Lösung. Der Hund lässt sich weder durch gezielte Steinwürfe noch durch hohes Radeltempo beeindrucken. Als ich das schnelle Patschen seiner Pfoten und sein Atmen näher kommen höre, drehe ich mich um und sehe, wie er mit gefletschten Zähnen von hinten auf mein Gepäck springt, sich festbeißt und dabei mein Zelt zerfetzt. Meine Angst schlägt um in Wut. Abrupt bremse ich ab, schmeiße das Fahrrad hin und beschimpfe das Tier mit den übelsten Flüchen – auf Deutsch. Augenblicklich zieht der Hund davon. Das Problem lässt sich also lösen.

Andere Probleme wiegen schwerer. Zahllose Han-Chinesen wurden und werden nach Tibet umgesiedelt. In einigen Städten stellen sie bereits den Großteil der Bevölkerung. Von der tibetischen Kultur bleibt oft nicht mehr als eine Folkloreveranstaltung. Das ist der Plan der chinesischen Führung. Wenn er aufgeht – und das ist zu befürchten –, wird Tibets Charakter verloren sein.