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Archiv-Artikel

Putzmunterer Geist

Der paradoxe Versuch eines Familienromans unter weitgehender Abwesenheit der Familie: „Großmama packt aus“ von Irene Dische

Auf den Markt geschielt? Viele Motive aus Irene Disches Erstling „Fromme Lügen“ tauchen nun in ihrem autobiografischen Familienroman „Großmama packt aus“ wieder auf

von JÖRG MAGENAU

Dieser Ton war ungeheuerlich. So wie in Irene Disches „Fromme Lügen“ aus dem Jahr 1989 war hierzulande über den Holocaust noch nicht gesprochen worden. In diesen Geschichten ging es um eine Emigrantenfamilie in New York, die ihre jüdische Herkunft so sehr zu verbergen suchte, dass die Tochter gar vermutete, ihr Großvater müsse Adolf Hitler sein. Oder es trat eine mondäne Berlinerin auf, die sich als Jüdin ausgab, aber die Tochter eines Nazis war.

An diesen Geschichten, die jeden Betroffenheitstonfall hinwegfegten, war nichts korrekt. Dabei gab es das Schlagwort von der „politischen Korrektheit“ noch nicht. Möglich war das nur, da Dische auf komplizierte Weise selbst Jüdin ist und ihre Texte aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt werden, obwohl Deutsch die Sprache ihrer Vorfahren ist.

Irene Dische näherte sich dem schwierigen deutsch-jüdischen Verhältnis unsentimental, mit Ironie und lakonischem Understatement. Das brachte ihr den Ruf einer „herzlosen“ Autorin ein, zumal sie – auch darin auf eigene Erinnerungen zurückgreifend – in der Titelgeschichte von einer Kindheit im Leichenschauhaus berichtete: Ihre Mutter arbeitete lange Jahre als Pathologin; ihren Vater, einen Nobelpreisträger in Biochemie, der im Alter an Alzheimer erkrankte, porträtierte sie kurz nach dessen Tod in der Erzählung „Der Doktor braucht ein Heim“. Vermutlich hat die Schriftstellerin Irene Dische, die Gefühle seziert anstatt sie auszubreiten, von diesen Eltern einiges gelernt.

Viele der Motive aus „Fromme Lügen“ tauchen nun in dem autobiografischen Familienroman „Großmama packt aus“ wieder auf. Es ist, als kehre Dische nach einigen weniger erfolgreichen Büchern zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Das Buch wirkt, sechzehn Jahre nach „Fromme Lügen“, wie ein Déjà-vu. Doch seltsam: Was damals unerhört und außergewöhnlich war, ist inzwischen eine Mode. Jüdische Familiengeschichten jenseits politischer Korrektheit prägen– von den Billers bis zu Eva Menasse – ein eigenes Label auf dem Buchmarkt. Mit Selbstironie und bösem Witz rücken jüdische Autoren der bedrohlichen Geschichte zu Leibe und verwandeln sie systematisch in heitere, abgründige Anekdotensammlungen, konsumierbar und goutierbar von einem versöhnungshungrigen Publikum.

Und noch etwas erstaunt an dem neuen Roman: Zwar meldet sich als Icherzählerin die Großmutter Elisabeth Rother zu Wort. Doch sie erzählt in dem saloppen Ton, den man von Irene Dische kennt. Man kann das als Schwäche auslegen, weil Dische keine eigene Stimme für ihre Figur fand. Man kann darin aber auch einen Hinweis auf die familiären Wurzeln dieser sarkastischen Welthaltung sehen: Dische hat diesen Ton geerbt. Es ist der Tonfall ihrer Familie. „Juden!“, schnaubt da die katholische Großmutter verächtlich, und ihr zum Katholizismus konvertierter Mann, vorletzter Überlebender einer von den Nazis deportierten und ermordeten Familie, entgegnet: „Nicht alles an den Juden ist schlecht.“

Die Großmama ist eine ziemlich geschwätzige und sprunghafte Erzählerin, die ein ganzes Jahrhundert überblicken muss. Sie gibt vor, an ihrer missratenen Tochter Renate und ihrer noch viel missrateneren Enkelin Irene wenig Gefallen zu finden, doch tatsächlich erzählt sie die Geschichte dreier starker Frauen aus drei Generationen. Zunächst geht es um ihre eigene Herkunft: um die Heirat der Rheinländerin mit dem Arzt Dr. Carl Rother und ihren Umzug ins oberschlesische, jüdisch geprägte Leobschütz – sehr zum Missfallen ihrer eigenen Familie. Ihre Brüder machen Karriere in der NSDAP und in der SS. Sie selbst behauptet, sich nicht für Politik zu interessieren. Doch mit der Unterstützung ihrer braven Haushälterin, der treuen Liesel, trotzt sie den Schikanen der Gestapo und schafft es, ihren Mann gegen dessen Willen ins Exil zu schicken.

Denn Carl fühlte sich als erfolgreicher Chirurg geschützt. 1933 wurde er zunächst zum „Ehrenarier“ ernannt. Weisungsgemäß sterilisierte er tagsüber geistig Behinderte und prangerte diese Praxis abends in Briefen an die Kirche an. Erst im letzten Moment gelingt ihm 1938 die Flucht. In New York misslingt der Neuanfang, bis Gattin und Tochter endlich nachkommen. „Ein schwacher Mann“ urteilt seine Frau, als er, gerade obdachlos geworden, bei ihrer Ankunft am Hafen zu weinen beginnt.

Bis dahin handelt es sich um eine Art „oral history“, um Zeitgeschichte im Rahmen der Familiengeschichte und um ein lustvolles Zerwirbeln der ordentlichen Grenzen zwischen Gut und Böse. „Großmama packt aus“ ist der paradoxe Versuch eines Familienromans unter weitgehender Abwesenheit der Familie. Von Carls Verwandtschaft bleibt nur ein Bruder übrig, mit dem er nichts zu tun haben will, und Elisabeth will von ihrer Familie verständlicherweise auch nichts mehr wissen. Deshalb müssen Tochter Renate und Enkelin Irene die ganze Familienbürde tragen. Ihre Nöte und Kämpfe rücken mehr und mehr in den Mittelpunkt: Renates Ehe mit dem wenig geschätzten „Dische“, Irenes Schulprobleme, ihre Reise nach Europa, wo sie Deutschland als gefährlichen Ort wahrnimmt, ehe sie, ganz Kind der Hippie-Epoche, in den Nahen Osten aufbricht und schließlich in Afrika ein Praktikum bei dem Affenforscher Louis Leakey absolviert.

Es mag für Irene Dische reizvoll gewesen sein, ihren Lebensweg mit den Augen der Großmutter zu betrachten. Erzählerisch funktioniert das nicht, weil die alte Dame einfach zu viel weiß und so tut, als wäre sie immer dabei gewesen. Der Zusammenhang mit der Familiengeschichte geht im Irene-Kapitel allmählich verloren. Oder erzählt die Großmutter gegen diese Gefahr an, indem sie sich das Leben der Enkelin zu Eigen macht? Auch ihr Tod in hochbetagtem Alter führt keineswegs zu ihrem Verstummen. Sie spricht einfach immer weiter– ein putzmunterer Geist aus dem Grab in New Jersey. Vielleicht sind solche Geister ja allwissend. Um die Erzählperspektive zu retten, ist das aber ein allzu billiger Trick.

Irene Dische: „Großmama packt aus“. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 366 Seiten, 23 Euro