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Archiv-Artikel

Spätiverkäufer, Kioskbetreiber

FILM Mit dem „Berliner Tagebuch“ ist im Eiszeit eine Beoachtung des migrantischen Berlins zu sehen

Sie streift durch die Stadt, um wie nebenbei mit den Leuten zu plaudern

Leute beobachten ist eine schöne Beschäftigung. Man nimmt sich nur so selten Zeit dafür, außer im Urlaub. Die Filmemacherin Rosemarie Blank hat sich für ihr „Berliner Tagebuch“ in so eine Art Urlaubssituation begeben. Lange Zeit hat sie selbst in Berlin gelebt, ist Anfang der Achtzigerjahre nach Amsterdam gezogen und nun nach Berlin zurückgekehrt, um ein Jahr lang, von April 2010 bis Ende März 2011, einfach durch die Stadt zu streifen – und um Leute zu beobachten.

Sie, die Berlin einst so gut kannte, ist zurückgekehrt in eine andere Stadt. Sie wollte wissen, sagt sie, warum dieses neue Berlin so attraktiv sei für Menschen von überallher. Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, hat die Filmemacherin aber keine jungen hippen Menschen in der Schlange vor dem Berghain oder in einer Neuköllner Szenebar befragt – das Fashion-Week- und „Grill Royal“-Berlin interessiert sie kein Stück.

Ihr Interesse gilt der zweiten und dritten Generation von Gastarbeitern, kurdischen Spätiverkäufern und Bahnhofskioskbetreibern oder dem Friseur aus dem Libanon, der seinen Salon einst verspielt hatte und ihn später, angeblich Dank einem Spielgewinn, wiederbekommen hat. Beiläufig erzählen ihre Protagonisten Anekdoten aus der ehemaligen Heimat und aus dem Leben in Berlin, etwas Spektakuläres ist kaum dabei. höchstens die Geschichte des türkischen Antiquitätenhändlers, der davon berichtet, wie er beim Militärdienst in der Türkei gequält wurde.

Stellvertretendes Flanieren

Als ernstzunehmende Dokumentation über Migranten in Berlin betrachtet, wäre das „Berliner Tagebuch“ ein Totalausfall. Es geht schon damit los, dass Rosemarie Blank nicht von Migranten, sondern von Ausländern spricht, was man heute ja nicht mehr tut. Man könnte der Regisseurin dann auch eine Sarrazin-artige Verengung ihres Blickwinkels auf die Migranten vorwerfen, die kein perfektes Deutsch sprechen und nicht die bestbezahlten Jobs haben.

Aber Rosemarie Blanks unglaublich langsam erzählter und mit teilweise ewig langen Bildeinstellungen arbeitender Film funktioniert eben ganz anders. Stellvertretend für uns Berliner, die wir uns die Zeit zum ziellosen Flanieren kaum mehr gönnen, streift sie durch die Stadt, meist in der U-Bahn, gerne nachts, um wie nebenbei und ohne auf die große Pointe zu zielen, mit den Leuten zu plaudern. „Ich liebe Deutschland“, sagt etwa der junge kurdische Migrant in seinem Kiosk. „Warum?“ – „Deutschland ist geil.“ So wird hier parliert, und so banal derartige Unterhaltungen wirken mögen, werden einem in diesen dennoch Menschen näher gebracht.

So spannungsarm und ohne auf die große Aussage hinarbeitend der Film wirken mag, so sorgfältig komponiert ist er dennoch. Er beginnt im Frühling, lässt den Sommer in Berlin aus, steigt erst im Winter wieder ein und entlässt uns in den nächsten Frühling. So sehen wir ein graues, kaltes, nicht besonders einladendes Berlin, was einen erst recht fragen lässt: Was wollen all die Leute eigentlich hier?

Aber wir können froh sein, dass sie hier sind. In der U-Bahn hockt jeder für sich, nur Straßenmusiker bringen etwas Fröhlichkeit und Wärme in die tristen U-Bahnfahrten. Es ist gut, dass die Menschen von überallher in Berlin sind. ANDREAS HARTMANN

■ „Berliner Tagebuch“ bis 6. März im Eiszeit-Kino, Zeughofstr. 20. Premiere mit Protagonisten und Filmemacherin heute, 19 Uhr