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Archiv-Artikel

Ein juristischer Konflikt droht

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF Luxemburger Richter weiten Anwendungsbereich der EU-Grund-rechtecharta offensiv aus

Kern des Konflikts war die Frage, ob die EU-Grundrechtecharta anwendbar ist

VON CHRISTIAN RATH

FREIBURG taz | Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Anwendung der EU-Grundrechtecharta ausgeweitet. Diese soll auch im nationalen Strafrecht zu beachten sein, wenn es um die Verteidigung von EU-geregelten Interessen geht. Damit hat sich der EuGH selbst gestärkt und die nationalen Verfassungsgerichte geschwächt.

Konkret ging es um den schwedischen Fischer Hans Åkerberg Fransson, der in den Jahren 2004 und 2005 Steuern hinterzogen hat. Zunächst musste er als Verwaltungssanktion Steuerzuschläge in Höhe von rund 13.000 Euro zahlen. 2009 leitete die schwedische Staatsanwaltschaft dann noch ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung ein. Das schwedische Strafgericht in der Kleinstadt Haparanda wollte nun wissen, ob hier gegen das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen wird.

In der Sache machte der EuGH dem Fischer wenig Hoffnung. Die EU-Grundrechtecharta, die seit 2009 verbindlich ist, verbiete zwar eine mehrfache Bestrafung wegen der gleichen Sache, Allerdings geht es dabei nur um strafrechtliche Sanktionen. Eine Kombination von Verwaltungs-und Strafsanktion sei möglich.

Spektakulär war der Fall aber nicht wegen seines Ergebnisses, sondern wegen der Frage, ob hier die EU-Grundrechtecharta überhaupt anwendbar ist und ob sich der EuGH mit diesem Fall beschäftigen darf. Fünf EU-Staaten (Schweden, Dänemark, Niederlande, Irland, Tschechien) und sogar die EU-Kommission hielten den EuGH für unzuständig, ebenso der EuGH-Generalanwalt in seinem vorbereiteten Gutachten. Die EU-Grundrechtecharta sei nur anwendbar, wenn EU-Recht angewandt wird, hier gehe es aber um schwedisches Strafrecht, so das Argument.

Der EuGH sah dies aber anders. Der Fischer habe schließlich auch die Mehrwertsteuer hinterzogen, die EU-einheitlich geregelt sei. Zudem würden die Mitgliedsstaaten der entsprechenden EU-Richtlinie aufgefordert, wirksam gegen Steuerhinterziehung vorzugehen. Das genüge für eine Anwendung der EU-Grundrechtecharta in diesem Fall.

Damit schafft sich der EuGH Zugriff auf Fälle, die nach Ansicht vieler nationaler Verfassungsgerichte auf nationaler Ebene entschieden werden sollten. Vor allem in Karlsruhe hatte man nervös das Urteil abgewartet. Die jetzige EuGH-Entscheidung betrifft nun zwar nur die Hinterziehung von Mehrwertsteuer, deutet als Präzedenzfall aber eine offensive Marschrichtung des EuGH an.

Als Zugeständnis ließ der EuGH den nationalen Gerichten die Möglichkeit offen, in solchen gemischten Sachverhalten auch künftig nationale Grundrechte anzuwenden – aber nur, wenn deren Schutz nicht hinter dem EU-Schutz zurückbleibt und die Wirksamkeit des EU-Rechts nicht beeinträchtigt wird. Unter dem Strich heißt das: Nationale Grundrechte können angewandt werden, wenn ihre Auslegung identisch ist mit der Auslegung von EU-Grundrechten durch den EuGH. Das Urteil wird das Verhältnis der Bundesverfassungsrichter gegenüber dem oft als selbstherrlich empfundenen EuGH nicht verbessern.

Bisher geht der Konflikt zwischen den Gerichten nur um die Frage, wer über Grundrechte entscheiden darf. Ob eine nationale oder eine europäische Entscheidung für den betroffenen Bürger besser ist, dürfte von Fall zu Fall unterschiedlich zu beurteilen sein. Az.: C-617/10