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Archiv-Artikel

Der späte Rabbiner

ERNST STEIN Er war schon über 40, als er sich zum Rabbiner ausbilden ließ. Der Geschichte zum Trotz knüpfte er an die Tradition des liberalen deutschen Judentums an. Ein Porträt des langjährigen Berliner Rabbiners Ernst M. Stein

Als Rabbiner in Berlin gingen Stein billige symbolische Versöhnungsgesten ebenso gegen den Strich wie mechanisches Mahnen

VON ESTHER SLEVOGT

Das Jahr 2009 war sein Jahr, könnte man sagen. Nicht nur, dass die Berliner Jüdische Gemeinde ihren langjährigen liberalen Rabbiner Ernst M. Stein aus Anlass seines 80. Geburtstags zum ersten Mal wirklich gewürdigt hat. Im November verlieh ihm die Humboldt-Universität die Ehrendoktorwürde, womit Stein wahrscheinlich der einzige Ehrendoktor einer Berliner Universität ist, der keinen Schulabschluss hat.

Denn als in Deutschland Kinder seines Alters ins Gymnasium kamen, musste er das Land verlassen. Gemeinsam mit seiner Mutter floh Stein 1940 als Elfjähriger aus Mannheim nach Schanghai, wo er drei Jahre später eine Ausbildung zum Schmied machte. Deshalb dürfte er einer der wenigen Rabbiner sein, die auch ein Pferd beschlagen können, wie er selbst gern mit dem ihm eigenen scharfzüngigen Humor zu Protokoll gibt. Später hat er sich, ins damalige Palästina weitergewandert, als Kunstschmied spezialisiert. Und noch später in den USA als Produktionsmanager in einem metallverarbeitenden Betrieb gearbeitet.

Zerstörte Tradition

Rabbiner ist Ernst M. Stein erst geworden, als er die vierzig längst überschritten hatte. Weil er schockiert war, wie mangelhaft in Deutschland auch in den Siebzigerjahren noch die jüdischen Gemeinden rabbinisch betreut wurden, wie gründlich die jüdische Tradition in Deutschland zerstört worden war.

Als er nach einem Rabbinatsstudium am Londoner Leo Baeck College und einem Beginn als Rabbiner in England 1980 vom damaligen Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, gerufen wurde, sei Berlin immer noch eine Frontstadt gewesen, sagt Stein heute. Anders als viele seiner Kollegen betreute Stein von Westberlin aus dann auch die Ostberliner jüdische Gemeinde oder andere der schrumpfenden jüdischen Gemeinden der DDR.

Seit der Teilung der jüdischen Gemeinde 1953 kamen Rabbiner höchstens zu den hohen Feiertagen nach Ostberlin, und das auch meist nur aus dem sozialistischen Ungarn, nur selten der deutschen Sprache mächtig. „Zu den Kommunisten gehe ich nicht“, hatte einer von Steins Westberliner Vorgängern dem damaligen Vorsitzenden der Ostberliner Gemeinde, Peter Kirchner, einst schroff beschieden.

Rabbiner Stein jedoch ging, wenn man ihn brauchte, als Seelsorger oder um Gottesdienste abzuhalten, weil er wusste, dass es nicht um Kommunisten, sondern um die wenigen Juden der DDR ging, die ein Recht auf die Ausübung ihrer Religion hatten. „Manchmal bin ich auch nach Ostberlin gefahren, wenn ich einfach einmal nachdenken wollte,“ erinnert sich Stein, der als Inhaber eines amerikanischen Passes ein Dauervisum für die DDR hatte. „Ich habe dann einfach irgendwo einen Kaffee getrunken.“ Ostberlin als Rückzugsort und Echoraum der Geschichte, das vermisst er heute manchmal sogar fast.

Die Mauer, sagt Stein, das sei ja nicht einfach ein böser Akt der DDR gewesen, wie es heute oft dargestellt werde, sondern eine Folge des Krieges. Wie ja auch die Russen nicht in Berlin gewesen wären, weil sie hier so unbedingt hingewollt hätten. Im Westen habe man nach dem Krieg beinahe nahtlos an die Vergangenheit angeknüpft, sagt Stein. 1957 war er aus Palästina (wo er nicht nur die Staatsgründung erlebt, sondern auch seine Frau Ruth kennengelernt hatte) zunächst nach Mannheim zurückgekehrt, um im Jahr darauf wieder in die USA zu emigrieren. Im Deutschland der Fünfziger sah er keine Perspektive für sich und seine Familie.

Der Hinweis auf die Tatsache, dass die Mauer auch eine Folge des Hitlerkrieges war, der hat ihm bei den diesjährigen Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Mauerfalls gefehlt. Mitunter scheint es ihm, als sei mit der Mauer auch ein Stück Geschichtsbewusstsein abhandengekommen. Wobei er sich auch über den Antifaschismus in der DDR nie Illusionen gemacht hat. Viele, die damals laut antifaschistisch getönt hätten, sagt er lakonisch, hätten nach 1945 ihre Nazivergangenheit einfach aus der Vita gestrichen.

Als die Mauer fiel

Am Abend des 9. November 1989, als die Mauer fiel, sprach Rabbiner Stein im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die brennenden Synagogen des 9. November 1938 das Totengebet. Unter den Gästen war auch der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper, der am nächsten Morgen mit Willy Brandt zu den Menschen am Brandenburger Tor sprechen würde, die johlend die Mauer erklommen hatten.

All das ist schon lange her. Inzwischen hat die Stadt ein Jüdisches Museum und ein Holocaust-Mahnmal und gibt sich mit ihrer Geschichte im Reinen. Das Haus der Wannseekonferenz wird nicht mehr, wie noch am Anfang der Achtzigerjahre, als Schullandheim, sondern als Gedenkstätte genutzt. Selbstbewusst überragt die restaurierte goldene Kuppel der Synagoge in der Oranienburger Straße die neue Mitte Berlins. Mitglieder der streng religiösen chassidischen Gruppierung Chabad Lubawitsch organisieren jeden Dezember zum jüdischen Channukkafest einen Autokonvoi: Auf den Dächern der Fahrzeuge versuchen riesige Channukka-Leuchter dem allgemeinen Weihnachtsrummel Paroli zu bieten. Die erste Channukkakerze wird, auch dies ist fast schon eine Tradition, am Brandenburger Tor im Beisein des Regierenden Bürgermeisters gezündet. All das war kaum denkbar, als Ernst M. Stein sich in der Mitte seines Lebens entschloss, Rabbiner zu werden.

Stein hat lange einfach „a job to be done“ gemacht, wie er das selbst nennt. Damals erfüllte er als Seelsorger und Geistlicher in einem Land seine Pflicht, in dem niemand mehr Rabbiner sein wollte, weil niemand hier an eine jüdische Zukunft glaubte oder gar in einer Stadt amtieren wollte, in der die Schoah beschlossen worden war. Mit scharfem politischem Instinkt ausgestattet, steter Offenheit für den Dialog, war Stein im Laufe der 17 Jahre, die er in Berlin als Rabbiner tätig war, stets auch in säkularen, nichtjüdischen Kreisen ein gefragter Redner und Repräsentant: ein Mann, der die Tradition des liberalen deutschen Judentums in dieser Stadt der Geschichte zum Trotz fortgeführt hat und dem billige symbolische Versöhnungsgesten stets ebenso gegen den Strich gingen wie mechanisches Mahnen. Ernst M. Stein hatte keine Angst davor, bittere Wahrheiten auszusprechen. Den Nazis aber wollte er nicht das letzte Wort in der deutsch-jüdischen Geschichte überlassen. Seine Bedeutung ist lange übersehen worden.