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Archiv-Artikel

„Flächenbrand nicht ausgeschlossen“

Interview EDITH KRESTA

taz: Frau Süssmuth, nach den Unruhen in den französischen Vorstädten meinten einige Fachleute: Bei uns werde es nicht so schlimm kommen. Zu Recht?

Rita Süssmuth: In Deutschland ist die Trennung zwischen den sozialen Schichten weniger ausgeprägt als in Frankreich. Ich habe in Frankreich studiert und dadurch schon früh die dortige Situation der Algerier erlebt. Wir in Deutschland sind weniger Klassengesellschaft. Auch im Bildungsbereich gilt bei uns – trotz aller Schwierigkeiten – eher Bildung für alle. In Frankreich geht es viel mehr um die Förderung von Eliteschulen und Elitehochschulen. Der sozialen Integration kommt in Deutschland eine hohe Bedeutung zu.

Ist diese Revolte also eher ein Klassen-, denn ein Migrationsproblem?

Es ist eine Revolte der Ausgegrenzten und Ausgeschlossenen. Und da sind wir ganz nah auch bei Deutschland, wo es nicht nur Migranten betrifft, sondern, wie in Frankreich auch, Teile der jungen Generation, die schlecht ausgebildet ist, benachteiligt im Bildungsbereich, im Wohnbereich, in Ausbildung und Beruf. Diese Generation macht die Erfahrung: Wir werden nicht gebraucht.

Ihr Parteikollege Wolfgang Schäuble, der neue Bundesinnenminister, hat versprochen, dass Integration eine der wichtigsten Aufgabe seiner Regierung sein wird. Wundert Sie das?

So dramatisch die Ereignisse in Frankreich auch sein mögen – es ist gut, dass sie alle aufrütteln und deutlich machen: Integration geschieht nicht von selbst, sondern sie ist eine politische und gesellschaftliche Aufgabe.

Besteht außer vollmundigen Bekundungen da ein politischer Wille? Also konkret: Geld, das umzusetzen?

Der Wille besteht, aber er ist begleitet von Widersprüchen. Wir hatten eine erhöhte Lehrerzahl zur Verbesserung von Sprachkenntnissen und zum Ausgleich von bestehenden Defiziten in Deutsch, aber auch in Mathematik. Wir hatten Förderunterricht, wir hatten Hausaufgabenhilfe – all diese Sonderleistungen sind in vielen Bundesländern gekürzt worden. Die Kommunen haben kein Geld mehr. Aber je mehr diese Gruppen sich selbst überlassen werden, desto größer werden die Konflikte.

Wie steht es um Mittel vom Bund?

Die gibt es, doch sie werden vor allem für eine bessere Sprachkompetenz der Erwachsenen eingesetzt. Für Kinder und Jugendliche sind die Länder und Kommunen verantwortlich. Wir haben hervorragende Kommunen, die ihr Bestes geben, auch mit erheblichen Erfolgen. Wir haben Kommunen, wo sich der Anteil der Schüler ohne Schulabschluss halbiert. Dort passiert viel.

Migranten und Sozialarbeitern haben viele Ansätze für die Integrationsarbeit – aber meist ehrenamtliche.

Richtig, wir fußen mehr und mehr auf privater, ehrenamtlicher Initiative. Ich bin die Letzte, die dagegen ist, aber wir brauchen auch einen Anteil an öffentlichen Mitteln, die allen zur Verfügung stehen. Ohne öffentliche Gelder, ohne intensive Integrationsmaßnahmen kann ein Flächenbrand auch in Deutschland nicht ausgeschlossen werden.

Der Gesetzgeber packte mit dem Zuwanderungsgesetz erstmals die Integration an. Es gibt Sprach- und Orientierungskurse. Aber reicht das?

Mehr als zwanzig Prozent der Migrantenkinder – gegenüber zehn Prozent der deutschen Kinder – verlassen die Schule ohne Abschluss und haben somit keine Chance auf eine Ausbildung. Das zeigt, dass hier Integrationsmaßnahmen notwendig sind und dass eine einseitige Ausrichtung auf Sprache nicht reicht. Wir brauchen nicht nur Sprachförderung, sondern wir brauchen auch eine Integration in Arbeit und Ausbildung und in politische Partizipation.

Da haben wir uns bislang wenig gekümmert?

Zu lange sind wir davon ausgegangen, dass die Zugewanderten in ihre Heimat zurückkehren. Wir haben muslimische Jugendliche in Koranschulen geschickt. Wir haben uns nicht hinreichend darum gekümmert, was in diesen Schulen inhaltlich geschah. Bei Fragen wie Zwangsverheiratungen und Ehrenmorden haben wir zwar gesagt: „inakzeptabel“, aber wir haben nichts dagegen getan. Vor allem Migrantinnen fragen zu Recht: „Wie helft ihr uns eigentlich, dass wir uns weiterentwickeln können?“

Das Zuwanderungsgesetz war 1998 ein Projekt der rot-grünen Regierung. Wären die Fortschritte, die es bedeutet, auch bei Fortsetzung der FDP/CDU-Koalition denkbar gewesen?

Nicht so. Aber es wäre sicherlich zu einem Integrationsgesetz gekommen. Wie auch immer: Gott sei Dank haben wir endlich ein Gesetz, das zwischen den Parteien grundlegende Übereinstimmungen erzielt hat. Vor allem die, dass wir ein Einwanderungsland sind.

Als im Jahr 2000 die Süssmuth-Komission zu Zuwanderungsfragen gegründet wurde, fragten viele, warum sich eine so bürgerliche Politikerin wie Sie mit einem Randgruppenthema wie Migration beschäftigt.

Dieser Vorwurf ist mir immer gemacht worden. Als ich als Ministerin für Jugend, Familie, Gesundheit und Frauen für eine liberale Aidspolitik oder den präventiven Schutz der Prostituierten eintrat, wurde gesagt: „Sie vertritt einseitig Randgruppen.“ Ich bin über das Thema Ausgrenzung von Frauen mehr und mehr zu den Migranten gekommen. Denn wir haben es strukturell mit den gleichen Problemen zu tun. Ein Beispiel aus der früheren Nürnberger Statistik, da hieß es: „Von Arbeitslosigkeit am schwersten betroffen sind Randgruppen.“ Das bedeutete dann: Frauen, Migranten und Behinderte. Es ist gelungen, diesen Begriff aus der monatlichen Statistik wegzubringen. Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, in welchem Maße sie Abgrenzung und damit Randgruppen vermeidet.

Ein Erfolg unter vielen?

Ich gehörte nicht zu den Politikerinnen, die von sich sagen konnte: Ich kam, sah und siegte. Es war immer mühsam. Aber es wurde dennoch eine Menge geschafft. Ich nehme einmal drei Bereiche: Als es 1972/73, damals arbeitet ich schon zu Familienfragen, um Tagesmütter ging, da kamen Proteste von Kinderärzten bis hin zu den Familienverbänden mit dem Tenor: „Wir wollen keine DDR-Erziehung.“ Als ich als Familienministerin das Thema Ganztagsschulen aufbrachte, hieß es, das sei furchtbar sozialistische Erziehung. Fünfzehn Jahre später wurden Tagesmütter den Krippen vorgezogen. Oder bei meiner Initiative als Familienministerin gegen Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe – für einen Gesetzentwurf haben wir 25 Jahre gebraucht. Da weiß man dann, alles braucht Zeit und Beharrlichkeit. Bei allem, was bei der Zuwanderungsdebatte bisher nicht erreicht wurde: Ich bin mir sicher, es wird weiter gehen.

Was haben Sie empfunden, als Sie mit der Arbeit in der Süssmuth-Kommission, die ja von Exinnenminster Schily eingesetzt wurde, in Ihrer Partei, der CDU, stark angefeindet waren?

Diese Ausgrenzung habe ich als sehr schmerzlich empfunden. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn Sie das Gefühl haben: Ich stehe völlig außerhalb der Gruppe. Oft ist man am Rande der Erschöpfung und fragt sich selbstkritisch: „Habe ich das selbst verursacht?“ Das ist eine gefährliche Frage. Und die Verletzungen waren auch nicht so, dass ich heute ein verbitterter, griesgrämiger Mensch wäre.

Was wurde Ihnen vorgeworfen?

Mir wurde vorgeworfen, dass ich mich als Mitglied der Opposition bereit erklärt hatte, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Da könnte man ja jetzt auch sagen, es ist unmöglich, dass CDU und SPD miteinander koalieren.

Warum sind Sie eigentlich noch in der CDU?

Weil ich da das meiste bewirken kann. Der zweite Grund ist: Wenn ich weggehe, haben diejenigen, die sich das wünschen, ihr Ziel erreicht. Dann hätte ich zwar meinen äußeren Frieden, aber meinen inneren hätte ich nicht.

Dem Zuwanderungsrat, der die Arbeit Ihrer Kommission fortsetzte, wurde dieses Jahr das Geld gestrichen. Hat sich die Arbeit des Rats erübrigt?

Ich sage ihnen klipp und klar: Er hat sich überhaupt nicht erübrigt. Die Politik braucht diese Gremien, die kontinuierlich Bericht erstatten. Gerade bei der Zuwanderung gibt es die Notwendigkeit, dass alle Teile eines Landes zusammenarbeiten. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit in der Zuwanderungskommission. Sehr arbeitsintensiv, aber auch sehr bereichernd.

Was bedeutet es für Sie, Mitglied der UN-Kommission Global Commission on Migration von Kofi Annan zu sein?

Es ist ein Gefühl der Anerkennung bisher geleisteter Arbeit, es ist auch ein Aufstieg beim Thema Migration. Aber in erster Linie ist es eine Erweiterung des Horizonts. Das bringt ganz neue Perspektiven. Zum Beispiel zu sehen, wie eng Migration und Entwicklung in den Ländern zusammenhängen. Zu sehen, welchen Beitrag Migranten für die Entwicklung in ihren Ländern leisten. Diese Leistungen haben wir immer völlig übersehen. Und wenn man über den deutschen Tellerrand hinweg schaut, auf die unglaublich tragischen Schicksale und mutigen Entscheidungen, die man gerade unter Flüchtlingen findet, dann kommt einem die Diskussion hier doch ignorant und fremd vor.