: Staat in Trümmern
KÄMPFE Vielleicht liegt die Zukunft Syriens in Aleppo. Die Rebellen wollen die Stadt gewinnen. Dann den Krieg gegen Assad. Was folgen könnte, zeichnet sich in Aleppos Gerichten und Gefängnissen ab
■ Milizen: Die Freie Syrische Armee (FSA) wird vom Syrischen Nationalrat unterstützt, neben der Nationalen Syrischen Koalition das wichtigste Gremium der Opposition. Seit Anfang 2012 treten vermehrt islamistische Milizen wie Dschabhat al-Nusra auf. Die Al-Nusra-Front, oft verbündet mit der FSA, von den USA als Terrororganisation eingestuft, soll Kontakte zu al-Qaida im Irak haben.
■ Fraktionen: Mit der alawitischen Regierung der Baath-Partei kämpfen neben der syrischen Armee mehrere regimetreue alawitische oder schiitische Milizen. Viele Christen unterstützen Assad, weil sie religiöse Verfolgung nach der Revolution fürchten. Die Kurden sind gespalten.
■ Recht: Menschenrechtsorganisationen werfen allen Fraktionen Kriegsverbrechen vor. 900.000 Syrer flohen laut UNO ins Ausland.
AUS ALEPPO JAN-NIKLAS KNIEWEL (TEXT UND FOTOS)
Es ist ein gewöhnlicher Mittag im Krieg, als zwischen den Häusern von Aleppo plötzlich ein Schuss fällt. Da, wo Tarik Hussein das nicht erwartet hätte. Sein Geländewagen rollt langsam über eine schmale Straße, vorbei an zerschossenen Fassaden. Hussein hat ein Tuch um den Hals, an seinem Handgelenk baumelt ein Armband, darauf die Flagge des Freien Syriens.
Ein Schuss ist kein Geräusch, das Tarik Hussein, den Kämpfer der Freien Syrischen Armee FSA, im 23. Monat dieses Krieges überraschen würde. Es ist ein allgegenwärtiges Hintergrundknattern. Wie anderswo, im Frieden, die Straßenbahnen.
Doch diese Kugel ist mitten unter ihnen abgefeuert worden, zwischen Passanten – weit entfernt von der nächsten Frontlinie. Ein Mann steht da und brüllt einen anderen an.
Hussein bremst und hält neben den beiden. Der eine, auch von der FSA, hebt sein Maschinengewehr und schießt dem anderen vor die Füße. Asphalt spritzt auf.
Hussein hechtet aus dem Wagen, reißt seine Pistole aus dem Schulterhalfter, packt den Angreifer am Kragen und schiebt den anderen beiseite. Die beiden Männer schreien sich weiter an. Hussein reißt die hintere Tür des Geländewagens auf. Er will den Kämpfer mit dem Maschinengewehr festnehmen, doch der wehrt sich.
Ein paar Menschen sind stehen geblieben und schauen zu. An ihnen vorbei schiebt sich ein Rebell. Er ist Polizist. Das ist jetzt seine Rolle in dieser Stadt, in diesem Krieg. Er kümmert sich.
Tarik Hussein, der Soldat in der Armee des Diktators Baschar al-Assad war, bis er Anfang vergangenen Jahres zu den Aufständischen überlief, lässt sich wieder auf den breiten Ledersitz in seinem Wagen fallen. Er steckt die Waffe zurück in den Halfter.
„Nur ein kleiner Streit übers Fahrverhalten.“ Hussein schüttelt den Kopf. „Es gibt hier zu viele wütende Idioten mit Waffen. Der Polizist wird ihn festnehmen, dann nehmen sie ihm Gewehr und Weste ab und er ist raus aus der FSA“, sagt Hussein. Er heißt eigentlich anders. Aber kaum einer will hier mit seinem Namen in einer Zeitung stehen.
Die Rebellen kontrollieren mittlerweile fast zwei Drittel von Aleppo, der Wirtschaftsmetropole, mit 1,7 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. Wenn sie die Armee Assads hier besiegen, könnte danach der finale Sturm auf Damaskus beginnen. Das hoffen sie jedenfalls.
Aleppo, die Stadt, die die entscheidende Wende bringen soll.
Eine Stadt, in der die syrische Opposition um ihre Identität ringt. Es gilt, einen neuen Staat aufzubauen. Dafür müssen diverse Parteien mit unterschiedlichsten Zielen jetzt erst einmal zusammenarbeiten.
Die FSA, die anderen Kampfgruppen, die verschiedenen islamistischen Milizen, die zivile und politische Opposition – vereint sind sie vor allem in ihrem Hass auf den Diktator.
In Aleppo treffen diese Gruppen aufeinander. In der Stadt, in der manchmal schon ein kleiner Verkehrsstreit unter verbündeten Kämpfern genügt, damit geschossen wird – wie an diesem Mittag Anfang Februar.
Die Waffen sind einmal angeschafft worden, um die Demonstranten zu schützen. Heute müssen die Zivilisten vor ihnen geschützt werden.
Wenn Tarik Hussein durch die Stadt fährt, scheppern Loblieder aus dem Autoradio, die die Revolutionäre preisen, und Schmähtiraden auf den Diktator.
Die Bilder Assads sind aus den befreiten Gebieten verschwunden, aus den Vierteln von Aleppo, die die Rebellen beherrschen. In einer Schule liegen Hunderte Lehrbücher in einer feuchten Ecke unter einer Treppe verstreut. „Wir wollen sie nicht mehr“, sagt eine Lehrerin. „Das sind die Bücher des alten Syrien.“
So sehr die Ablehnung der Diktatur eint, so sehr trennt vieles andere. Mitte Februar spaltete sich die Freitagsdemonstration im Stadtteil Bustan al-Qasr, weil viele nicht mehr bereit waren, die schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis zu dulden, die von Ägypten bis Mali von Islamisten vereinnahmt und missbraucht wurde.
In Nurs Familie ist der Krieg zu einem Familienkonflikt geworden. Ihr Vater arbeitete für den syrischen Nachrichtendienst. Noch immer steht er loyal hinter Baschar al-Assad. Als er herausfand, dass seine Tochter seit dem Ramadan 2012 an den Demonstrationen gegen das Regime teilnahm, schlug er sie.
Nur wandte sich von ihm ab und heiratete einen Mann namens Mahmud, der da begann, eine Brigade aufzubauen: die Sawt Al-Haq-Katiba – die „Stimme des Rechts“.
Bevor er zum Kämpfer gegen Assad wurde, war Mahmud Künstler. Er fertigte Skulpturen. Einer seiner Freunde zeichnete politische Karikaturen. „Doch Kunst ist zu diesem Zeitpunkt nicht die richtige Waffe“, sagt er jetzt. Dafür brauche man ein kritisches Publikum, das es nicht gebe. Wie jeder FSA-Kämpfer ist er überzeugt, dass der bewaffnete Kampf der einzige Weg ist, das Regime zu überwinden. An eine politische Lösung glaubt keiner.
„Muas al-Chatib ist ein cleverer Mann“, sagt Mahmud. Al-Chatib, der Oppositionsführer von der Nationalen Syrischen Koalition. „Er bietet dem Regime Gespräche an zu Konditionen, auf die sie gar nicht eingehen können. So kann er behaupten, dass es Assad und seine Leute sind, die keine Lösung wollen.“
Mahmud hat früher auch Frauen geformt, vollbusig, mit weitem Ausschnitt. Heute, sagt er, würde er das nicht wieder tun. „Das war unter der alten Regierung.“ Er winkt ab.
„Damals hieß es: Tu, was du willst, aber komm nicht den Mächtigen zu nahe. Das müssen wir ändern. Jeder wird tun können, was er will. Aber nicht außerhalb der Kultur des Islam. Die wahre Revolution kommt nach der Revolution gegen Assad.“
So wie Mahmud stellen sich viele Oppositionelle ein neues Syrien vor. Meist sagen sie das nicht allzu offen, um niemanden zu verschrecken. Man muss auf der Suche nach dem Neuen Kompromisse eingehen. Damit auf diesen Krieg nicht gleich der nächste folgt.
Er solle auf den Koran schwören, sagt der Richter
Das Militärtribunal im Bezirk al-Mashhad. Schweiß benetzt das Gesicht eines nervösen Mannes. Richter Mohammed, um dessen Kopf sich ein weißer Turban windet, fährt sich beim Reden nachdenklich durch den buschigen, schwarzen Bart.
„Wie viele sind mit dir geflüchtet?“, fragt er den Schwitzenden, der von der syrischen Armee desertiert ist und zu den Rebellen überlaufen will.
„Fünfzehn.“
„Was habt ihr in der Armee getan?“
„Wir haben nach Bomben in den Straßen gesucht.“
„Hast du jemals gesehen, wie Soldaten Demonstranten töten?“
„Ja.“
„Hat einer der mit dir geflohenen Männer jemals einen Demonstranten getötet?“
„Nein.“
Der Richter befiehlt dem Mann zu schwören. Dessen Hand schwebt über einem Koran mit reich verziertem schwarz-goldenem Einband. Er schwört. Dann darf er gehen.
Die Gerichtssäle der Rebellen sind kleine Zimmer mit Koran-Suren an den Wänden. Ein Tisch am Ende des Raumes. Daran sprechen je zwei Scharia-Gelehrte und ein studierter Jurist Recht. So versucht man, islamisches Recht mit dem Säkularen zu vereinbaren. Die Grundlage: ein Gesetzesentwurf der Arabischen Liga. Einer der vielen Kompromisse, der alle Seiten halbwegs zufrieden stellen soll.
Richter Mohammed hat islamisches Recht studiert. Was hält er von der Todesstrafe? Er lächelt. „Vielleicht gibt es die nach der Revolution. Wenn wir den neuen Staat bilden.“ Das Gericht in einem einstigen Apartmenthochhaus ist das größte in Aleppo.
Die neuen Gerichte sind der Versuch, die befreiten Gebiete nicht zu einem gesetzesfreien Raum werden zu lassen. Dass auch sie stark religiös geprägt sind, ist schwer zu übersehen.
Im Keller des Gerichtsgebäudes ist ein Gefängnis. Es stinkt nach Schweiß und Urin. Der Direktor betont, dass die Inhaftierten gut behandelt würden. „Sie haben sogar einen Fernseher in einer der Zellen!“ Er zeigt ihn vor.
Es gibt Sammelzellen für Kriminelle, Regime-Kollaborateure, Angehörige der FSA oder Frauen.
Ein Gefangener hat ein Pflaster am Kopf. „Er ist hingefallen“, sagt der Direktor. Sein Ton lässt keine weiteren Fragen zu. Der Mann soll einen Kühlschrank geklaut haben, bei einem Einsatz der Rebellen. Es kursieren auch andere Geschichten von Plünderungen, von Raub. Davon, dass sich FSA-Leute bereichern.
In einer Zelle sitzt eine Frau mit drei anderen Inhaftierten. Sie hat zwei Kinder. Ihr Ehemann hat sie vor zwei Monaten hierher gebracht. Seitdem wartet sie auf ein Urteil. „Ich möchte einfach nur noch meine Strafe wissen“, flüstert sie. Ihr Verbrechen: Ehebruch. Derselbe Vorwurf wie bei zwei der anderen Frauen.
Eine neue Justiz zu etablieren ist das eine. Viele Männer der FSA wollen die gesamte Kultur verändern. „Die Menschen sollen sich nicht mehr vor der Polizei und der Armee fürchten“, sagt ein Kämpfer. Um diesen Traum zu verwirklichen, müsste man aber verhindern, dass die Milizen die Macht, die ihnen zufällt, missbrauchen und am Ende nicht dieselbe Willkür walten lassen wie das Regime.
Warum er eingesperrt wurde? Er weiß es nicht
Ein kleines Gefängnis in einer Polizeistation. Der Chef schließt die dünne Blechtür auf, die in einen fensterlosen, dunklen Raum führt, auf dem Boden drei löchrige Matratzen. Eine Gestalt schält sich aus einer Decke. Die Polizisten lassen den Mann und den Reporter allein. Er erzählt, wie FSA-Kämpfer vor zwei Tagen vor seiner Tür standen und ihn festnahmen. Er wisse nicht, was man ihm vorwirft. Als er, 41 Jahre alt, von seiner Frau und den vier Kindern erzählt, muss er weinen.
Ein Wärter habe ihn geschlagen. Dessen Kollege habe dann gefragt, warum er das tue – das seien Methoden des alten Systems.
Es ist Mittwoch, der Tag, an dem die Gerichte in Aleppo schließen. Frühestens drei Tage später, am Samstag, kann dem Gefangenen der Prozess gemacht werden. Selbst der Chef des Reviers kennt die Gründe der FSA für die Inhaftierung nicht.
Fährt man durch die Stadt, sieht man ständig die Wracks ausgebrannter Autos, Metallskelette, manche mitten auf der Straße. An einigen Fassaden lehnen Holzstelen, mit denen Männer, die daran herumhantieren, versuchen, die Häuser zu stabilisieren. Andere klettern an den Strommasten hoch, um sie wieder in Betrieb zu nehmen. Menschen werkeln an den zerstörten Autos.
In den befreiten Gebieten versuchen alle, zur Routine zurückzufinden. Straßenverkäufer feilschen mit Kunden, Kinder spielen Fußball. Manchmal hieven FSA-Leute den Müll in Lastwagen, der an jeder Ecke vor sich hingammelt. Seit die Müllabfuhr nicht mehr kommt, hängt ein übler Geruch in den Straßen.
Noch immer gibt es nur selten Elektrizität. Nachts ist es deshalb fast völlig finster in Aleppo. Nur hinter wenigen Fenstern schimmert Licht, das Generatoren erzeugen. Die Kosten für Lebensmittel sind so stark gestiegen, dass sich viele selbst Brot nicht mehr jeden Tag leisten können. Der Preis habe sich seit Beginn des Krieges verfünffacht, sagen die Leute.
Von Zeit zu Zeit verteilen Helfer Grundnahrungsmittel, die von der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen geliefert werden. Verschleierte Frauen und Männer drängen sich in getrennten Schlangen vor den Metalltoren, strecken den Helfern flehend die Arme und ihre Essensmarken, die sie in Krankenhäusern bekommen können, entgegen. Einige Kinder schlüpfen zwischen Beinen hindurch, um weiter nach vorn zu kommen. Augen voller Angst. Wer es geschafft hat, klammert sich an die Tore, um nicht zurückgerissen zu werden.
In Aleppo beginnt langsam etwas Neues. Aber es ist immer noch Krieg. Und kein Kämpfer glaubt, dass das Ende des Assad-Regimes allzu schnell kommt.
Nahe der Front in Aleppos Altstadt leben noch immer viele Menschen, die nicht in Flüchtlingslager können oder wollen. Die Gewehrsalven, die man hier hört, sind nah wie nirgends sonst. Und sie fordern ihre Opfer. Aus dem Nichts wird eine alte Frau von einem Scharfschützen des Regimes niedergeschossen. Junge Männer tragen sie rasch in Deckung. Sie erbricht sich. Ihre Zahnprothese quillt hervor, doch sie bleibt stumm.
Einer der Männer schiebt ihr Oberteil hoch und presst Taschentücher auf die Wunde in ihrem Rücken. Das Blut sickert schnell durch den Stoff. Ein Wagen kommt angerast. Die Männer packen sie an Armen und Beinen, reißen die Tür auf und legen sie auf den Rücksitz. Mit quietschenden Reifen macht das Auto kehrt und jagt durch die engen Gassen.
Am nächsten Morgen erzählen die Ärzte in der Klinik, in die sie gebracht wurde, dass sie ihren Verletzungen erlegen ist.
Sie wurde 90 Jahre alt. Ein ziviles Opfer mehr. 70.000 Menschen sind in diesem Krieg bisher gestorben, schätzt die UNO.
70.000. So viele Einwohner hat die Stadt Bayreuth.
Die Zahlen dringen nur noch wie ein fernes Echo in die deutsche Nachrichtenwelt. Bombenanschläge, Damaskus, 60 Tote. Raketen, Aleppo, 30 Tote, auch Kinder.
Die Schüsse, die Bombensplitter, sie treffen vor allem Zivilisten. Ohne dass klar ist, was genau für einige von ihnen besser werden wird, wenn in Syrien nach der Revolution dasselbe passiert, was nach den Revolutionen in Ägypten oder Tunesien passiert ist. Die Säkularen fürchten, dass dann die Islamisten übernehmen. Dass all die Opfer noch sinnloser würden.
Die wenigen Ärzte in den Krankenhäuser der Stadt, die nicht geflohen sind, stehen den zahllosen Verletzten, die auf die schmuddeligen Behandlungstische gelegt werden, oft hilflos gegenüber. Im November 2012 wurde Dar al-Shifa, das wichtigste Krankenhaus der Stadt, von einem Luftangriff der syrischen Armee zerstört. Die Ärzte, die entschieden haben zu bleiben, zogen an einen anderen Ort um, und haben für die Behandlung der etwa 70 Verwundeten pro Tag, die laut Medizinern eingeliefert werden, nur die Instrumente, die diesen verheerenden Angriff überstanden haben. An neue kommen sie nicht heran.
Chaled al-Wali ist einer der sieben Ärzte des Hospitals. Der Mann im faltigen weißen Kittel ist 27 Jahre alt, er wirkt noch jünger. „Wir leisten schnelle erste Hilfe. Wenn die Verletzungen zu schwer sind, können wir nichts tun – dann müssen wir versuchen sie rechtzeitig weiterzuleiten nach al-Bab oder in die Türkei.“ Al-Bab ist eine Kleinstadt, 40 Kilometer entfernt.
Die meisten der Verwundeten, sagt auch al-Wali, seien Zivilisten. Das geht ihm nahe. Viel zu viele Kinder. Wie das Mädchen, das auf dem Heimweg von der Schule bei einem Luftangriff der syrischen Armee getroffen wurden. Die Ärzte pressen ihr eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase und begutachten die Schädelverletzungen.
Sie können ihr nicht helfen. Alle Spezialisten, Chirurgen etwa, sind geflohen. Der Vater nimmt sie in den Arm und rennt hinaus. Er hält ein Taxi an. Richtung al-Bab, dort gibt es ein besser ausgestattetes Krankenhaus. Auf dem Tisch liegt noch ihr bunter Schulranzen. Dahinter die blutverschmierte Wand.
Der Krieg hat seinen eigenen Rhythmus. Mal beschleunigt, mal entschleunigt er sich. Mal würden nur einige wenige Verwundete am Tag im Dar al-Shifa-Krankenhaus eingeliefert, dann wieder deutlich über hundert, sagt al-Wali, der Arzt.
Und immer wieder bringt der dreckige Fluss Quweiq, der durch Aleppo fließt, die Körper von Toten. An einem Tag keine, an einem anderen drei, dann wie am 29. Januar: mehr als 70. Der Fluss spült sie heran aus den von der syrischen Armee kontrollierten Gebieten. Hände auf den Rücken gefesselt, Kugel im Kopf.
Scharfschützen, Bomben, Raketen, Querschläger. 70.000 Opfer. Bis jetzt. Ständig wird irgendjemand getötet.
Viele sind müde. Sie wollen diesen Krieg nicht mehr. Sie sagen, die Revolution bringe nichts als Leid. Wieder andere werden zornig. Die Wut politisiert.
Mohammed hat sich der Brigade al-Waad angeschlossen, die im Stadtteil Salaheddin gegen das Assad-Regime kämpft. Kaum ein Fenster liegt nicht in Scherben, aus der Verankerung gerissene Markisen flattern im Wind.
Die Rebellen haben lange gekämpft, bis sie die Oberhand gewannen. Noch immer verläuft eine der vielen Frontlinien hier.
Mohammeds Züge sind ein wenig schräg, was seiner aufgesetzten ernsten Miene die Härte nimmt. Er trägt eine speckige Baseballkappe. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass ein milchiger Schleier über seinem rechten Auge liegt. Es ist vor drei Monaten erblindet, bei einem Luftschlag der syrischen Armee.
Neben ihm an der Wand lehnt eine Kalaschnikow. Mohammed ist 16 Jahre alt.
Als immer mehr Zivilisten starben, entschied er sich, zu kämpfen, sagt er. Er habe sie verteidigen wollen. Weil seine Eltern dagegen waren, riss er aus – zur Brigade, mit der er nun kämpft. Mit dem Maschinengewehr umzugehen hat man ihm zwei Wochen lang beigebracht, dann wurde es ernst.
„Angst“, behauptet er, „habe ich nie. Wenn ich jung im Krieg sterbe, komme ich ins Paradies. Ich kämpfe für den Dschihad, den heiligen Krieg.“
Gibt es nicht Dinge im Leben, die es wert sind, sie zu erleben? Die Liebe einer Frau? Er guckt etwas verständnislos: „Aber das alles werde ich doch auch im Paradies sehen.“
Sein Vater habe seinen Weg jetzt akzeptiert. Nur seine Mutter habe noch Angst und könne ihn nicht verstehen, sagt er.
Aleppo, im 23. Monat seit Beginn der Aufstände. Die Bomben fielen am frühen Morgen. Wo einmal mehr als 30 Familien lebten, liegen heute nur noch Trümmer, in denen Männer und Frauen nach ihrem Besitz stochern. Eine Alte steht einsam auf einem Schutthaufen, reckt die Armen gen Himmel und klagt über das Unrecht. Elf Verwandte habe sie verloren, außer ihr habe nur ihr Enkel überlebt.
Am Rand des Grundstücks bleiben Passanten stehen, wortlos schauen sie für einige Sekunden auf den Schutt. Dann gehen sie weiter.
■ Jan-Niklas Kniewel arbeitet als freier Autor und Fotograf in Hamburg. Er war vom 5. bis 15. Februar in Aleppo