: Die Landnahme von Heuersdorf
AUS HEUERSDORFSTEFAN RUWOLDT
Bernd Günther ist heute der erste im Dorfbüro. „Informations- und Beratungszentrum Zukunft für Heuersdorf“ heißt der ehemalige Dorfkonsum seit nunmehr sechs Jahren. Ein paar Tische mit Computern stehen drin, eine Couch, Stühle und Regale mit Broschüren zu Energie-, Umwelt- und Siedlungsthemen.
Günther erwartet eine Schulklasse aus Weimar. „Die fahren erst nach Lippendorf ins Kraftwerk, dann in den Tagebau, und jetzt am Abend kommen sie zu uns ins Dorf. Komische Reihenfolge, eigentlich ja verkehrtrum“, sagt Günther. Er ist der Vereinsvorsitzende von „Für Heuersdorf e. V.“. Die Mibrag, die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft, will das Dorf abreißen, um darunter die Kohle zu fördern, die dann in Lippendorf verstromt werden soll. „Dem Tagebau weichen“, nennt die Leipziger Volkszeitung den Abriss, „Inanspruchnahme der Ortslage“ heißt er in den Schriftwechseln der Juristen, „Devastierung“ schreiben die Bergbauingenieure in ihren Gutachten. Bernd Günther sagt: „Die wollen, dass wir wegkommen.“ „Die“ und „wir“ sagt Bernd Günther oft.
Günthers Erklärung
„Das ist nicht die erste Schulklasse heute. Wir hatten schon welche, die kamen und wussten genau Bescheid, haben gesagt: ‚Braunkohle bringt Arbeitsplätze, das müsst ihr doch einsehen, ihr seid nur ein paar, müsst nur umziehen, euch wird doch geholfen.‘ Dann haben wir gesagt: ‚Na gut‘, haben sie rumgeführt, ihnen das Dorf gezeigt, den Anger, das Rittergut, die beiden Kirchen, die Höfe, die alten Dreiseitenhöfe bis ganz nach hinten ans Dorfende, wo die ersten Leute schon weg sind, wo nun die Ställe leer sind, die Dächer einfallen, die Fenster zugemauert oder eingeschlagen sind. Dann waren sie ruhig. Von Arbeitsplätzen hat keiner mehr geredet.“
Henrike Flex weiß nicht recht, was sie von diesem Schulausflug halten soll. Sie ist heute vor allem wegen ihrem Lehrer mitgekommen, dem Herrn Wäschle, „so ’nem Biotyp“, sagt sie: „Na ja, wir sind in der Zwölften, an einer Waldorfschule, total engagiert und so.“ Der Herr Wäschle habe die Klasse überrascht, denn von dem Dorfbesuch hätten sie nichts gewusst. „Wir haben gerade Rohstoffe und Energiegewinnung in der Schule. Vorher Erdöl, jetzt Kohle und der Atomscheiß kommt auch noch“, erzählt sie. „Im Kraftwerk eben haben sie uns gesagt, wie umweltfreundlich die Kohle ist. Wir sind übelst mit einem Lkw durch den Tagebau geheizt, mit tollen Brillen auf und Besucherhelmen. Jeder hat ein Säckchen Braunkohle bekommen. Und wer noch eins wollte, hat noch eins bekommen. Die haben gesagt, da ist genug da.“
Bernd Günther zeigt Henrike und ihren Mitschülern die Kirche. Erzählt, dass der 700 Jahre alte Bau mit dem Dorf abgerissen werden soll, „einfach weg“. Für einen Besuch am Rittergut ist es schon zu dunkel. Dafür sehen die Schüler den hell erleuchteten Tagebau Schleenhain. Der Wind trägt das Kratzen der Schaufeln und Quietschen der Förderbänder bis in die Mitte des Dorfs. Henrike sagt: „Krass!“
Jeffrey Michel ist umringt von den Schülern. Michel ist Amerikaner, aufgewachsen in New York und New Orleans. Er lebt seit 35 Jahren in Deutschland, war „an verschiedenen Umweltprojekten beteiligt“, wie er sagt. Seit zehn Jahren unterstützt Michel nun die Heuersdorfer. Er hat Günther bei der Führung durchs Dorf begleitet und beantwortet nun Fragen der Schüler. Die sind überrascht, im sächsischen Heuersdorf mit einem Amerikaner über Energiepolitik und sächsische Siedlungsgeschichte zu sprechen. Michel erklärt, dass es den Dorfbewohnern nicht darum gehe, das Kraftwerk Lippendorf zu schließen, Leute zu entlassen. „Aber nur Abriss ohne Einigung mit den Dorfbewohnern?“ – Michels Frage ist ein Vorwurf. Die Schüler schauen verständnisvoll.
„Mit Zahlen“, sagte Michel, „mit Zahlen lässt sich sehr leicht jonglieren. Wer kann schon festlegen, was ein Dorf wert ist und wie schwer dessen Wert wiegt beim Wettkampf der Braunkohle mit anderen Energien?“
Michel fragt: „Wie bilanziert man Landschaftsverwüstung und Ortsvernichtung? Statt von Kosten redet man hier von ‚Zugeständnissen‘. Der Schaden ist unersetzlich.“ Die Schüler nicken.
Michel stellt zum Abschluss eine Denkaufgabe: „Man kann sich natürlich woanders ein neues Häuschen bauen. Auch eine Heimat?“ Henrike zeigt noch einmal ihr Souvenir aus dem Tagebau: „Mein Schatz ist die Braunkohle“, steht auf dem blauen Papierbeutel der Mibrag. Sie winkt ab. Die Schüler steigen in den Bus, der sie nach Weimar zurückbringt. Lehrer Wäschle sagt: „Wir unterhalten uns morgen über alles.“
Kratzschs Rechtfertigung
Am Abend sind im Sportlerheim alle Stühle besetzt. Ortsvorsteher Horst Bruchmann leitet heute die Sitzung des Ortschaftsrats. Sein Alltag in Heuersdorf ist die Verwaltung des Dorfzerfalls. „Die Landesregierung sagt, es sei dem Steuerzahler nicht zuzumuten, in Heuersdorf zu investieren“, sagt er gerade. „Wir hatten hier Archäologen, die haben, wie sie es nannten, Prüfungen vorgenommen und dabei intakte Gebäude beschädigt.“ Bruchmann winkt ab. Er knöpft seinen obersten Hemdknopf zu und zeigt damit an, dass es jetzt offiziell wird. Für den Verlauf der Sitzung ist die Theke geschlossen.
An einem Nebentisch sitzt Thomas Kratzsch. Er ist stellvertretender Bürgermeister im benachbarten Regis-Breitingen und seit der unfreiwilligen Eingemeindung Heuersdorfs der Verwaltungschef des Ortes. Gerade geht es um missverständliche Briefwechsel und Schuldzuweisungen. Die Heuersdorfer schütteln mit dem Kopf, wenn Kratzsch sich meldet. Und Kratzsch lächelt unsicher, weil die Heuersdorfer alles ablehnen, was er sagt. Für sie ist die Sache klar. „Wir wurden zwangseingemeindet“, sagt Günther. „Die Mibrag lässt denen in Regis-Breitingen diverse Mittel zukommen, die bauen für uns an einer ehemaligen Kippe eine Siedlung und verkaufen das als Glücksgriff. Gefragt aber hat uns keiner. Unsere Forderungen für eine Siedlung werden ignoriert“, sagt Günther. Für ihn sind Kratzsch und die Stadtverwaltung von Regis-Breitingen von der Mibrag gekauft.
„Ich sag mal, das Verhältnis ist festgefahren“, erklärt Kratzsch nach der Sitzung die Stimmung. „Dabei ist die Siedlung perfekt, jeder kann hinfahren und es sich ansehen.“ Er bietet eine Führung in Regis-Breitingen an. Dort, an der Straße der Deutschen Einheit, stehen mehrere sanierte Viergeschosser aus Ostzeiten. Nach rechts führt die Straße An der Kippe in die für die Heuersdorfer gedachte Siedlung Am Wäldchen. Sie ist begrenzt vom Sportplatz, mehreren Garagen, einer leer stehenden Baracke. „Hier bauen Schellbachs“, zeigt Kratzsch, „dort Strelle, da die Kellers und Familie Siegel wohnt schon. Die waren die ersten.“ An einem Mehrfamilienhaus hämmern Handwerker. Kratzsch grüßt.
„Ich sag mal, wenn schönes Wetter ist, sind die Leute hier mit Kind und Kegel unterwegs. Das ist der grüne Gürtel des Ortes.“ Hinter den Häusern ist ein Hügel mit Bäumen. „Aufgeschüttet aus dem ehemaligen Tagebau. Im Winter kann man hier wunderbar Schlitten fahren.“ Kratzsch grüßt jeden, kennt jeden. Er lächelt, die Leute lächeln zurück.
„Ich sag mal, für Alte ist das ideal: hier Kaufhalle und Post, daneben Arzt, Zahnarzt, dort die Apotheke, dann die Bushaltestelle und zum Bahnhof nur ein Kilometer. „Viele heizen hier nun mit Erdwärme. Kratzsch findet es wunderbar: „Jeder bekommt eine Garage und eine Art Gartenzaun als Schmucktrennung. Hunde, Karnickelstall – die können alles halten.“ Die Fläche ist frei wie ein Flugfeld, kein Baum, kein Strauch. „Das kommt“, ist sich Kratzsch sicher. Dann lächelt er. „Die Freiheit, die sich die Heuersdorfer herausgenommen haben, war anmaßend, übertrieben“, sagt Kratzsch jetzt. „Die werden sich fragen müssen, ob sie im Interesse des Dorfs gehandelt haben.“ Die Älteren seien zuerst hergezogen, „weg von ihren verfallenen Höfen“. Die Heuersdorfer allerdings sagen, viele Alte hätten vor allem deshalb so schnell zugestimmt, weil ihre Entschädigungsansprüche nicht vererbbar seien. Kratzsch nennt das „Quatsch. Nur wo Profit gemacht wird von Betrieben, da geht es den Menschen nicht schlecht – und umgekehrt. Das hier dient dem Allgemeinwohl, das ist so in der Demokratie. Das ist der Unterschied zu früher. Mit so einer sanierten Wohnung wie da vorn wären die zu Ostzeiten happy gewesen, meine Schwiegereltern zum Beispiel“, sagt Kratzsch. Dann verabschiedet er sich zum Fest der Freiwilligen Feuerwehr.
Budewigs Zurückweisung
Die Heuersdorfer haben Fahrgemeinschaften zum Landesverfassungsgericht nach Leipzig gebildet. Heute ist der dritte große Gerichtstermin: Im Sommer 2000 hatten sie vor der Kammer bereits das so genannte erste Heuersdorf-Gesetz zu Fall gebracht, im November 2003 erfolgreich vor dem Oberverwaltungsgericht den Braunkohlenplan „Vereinigtes Schleenhain“. Nun geht es um das neue Heuersdorf-Gesetz, das die Abbaggerung besiegeln soll.
Ortsvorsteher Bruchmann fährt, mit ihm zwei Mitglieder des Ortschaftsrates in seinem Auto. In einem Taxikleinbus sitzen sechs weitere Heuersdorfer, unter ihnen Jeffrey Michel und Bernd Günther. Vor dem Gerichtsgebäude erwartet ein Kamerateam des MDR die Heuersdorfer, das ZDF ist da, Reporter bedrängen Bruchmann, verabreden Interviewtermine für nach der Urteilsverkündung.
Der Saal 150 ist geteilt: Rechts sitzen die Gewerkschaftsvertreter und Bergarbeiter der Mibrag, Stadträte aus Regis-Breitingen, gleich mehrere Vorstände der Mibrag. Links sitzen die Heuersdorfer. Die ZDF-Reporterin fragt in die Runde der im Gang stehenden Heuersdorfer: „Haben Sie noch Hoffnung?“ Die Bergmänner auf der anderen Gangseite blicken sich an, warten. Sie wissen, dass sie gleich nach der Hoffnung auf ihre Arbeitsplätze gefragt werden.
Frank Frenzel, Elektromeister bei der Mibrag, hat heute frei. Er ist gemeinsam mit mehreren Gewerkschaftskollegen angereist: „Langsam ist die Schmerzgrenze bei beiden Seiten erreicht“, sagt er. „Sicher, so ein Dorf ist für jeden persönlich immer Geschichte. Drum herumbaggern, wie es die Heuersdorfer vorgeschlagen haben, geht technologisch gar nicht. Auch wenn die Experten der Heuersdorfer da was anderes erzählen.“
Als der Richter erscheint, wird es ruhig im Saal. Klaus Budewig, Präsident des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes, erklärt: „Der Antrag wird zurückgewiesen.“ Die Gewerkschafter nicken. Die Heuersdorfer warten. „Die Inanspruchnahme des Dorfes ist mit der sächsischen Verfassung vereinbar“, liest Budewig vor.
Ortsvorsteher Bruchmann ist sichtlich schockiert. Er schüttelt mit dem Kopf, wiederholt die Frage, die Reporter ihm laut zurufen. Fragt, was er selber gern wüsste: „Wie es weitergeht?“, sagt er. „Ich kann es nicht sagen.“
Vor dem Gerichtssaal gibt Mibrag-Vorstand Bruce de Marcus ein Interview. Der US-Amerikaner lebt seit acht Jahren in Deutschland, er spricht Englisch, lässt sich die deutschen Fragen von seiner Assistentin übersetzen: „Der Prozess des Abrisses wird in den nächsten drei bis sechs Monaten beginnen“, erklärt er gerade. Dass das passieren soll, während viele Heuersdorfer noch im Ort wohnen, sei für ihn kein Problem: „Ich hatte das bei mir auch kürzlich. Da wurde etwas abgerissen und ich musste dort arbeiten. Das ist eben so.“ Dass es für die Heuersdorfer nicht um einen Arbeitsplatz, sondern um ihr Zuhause gehe, mache für ihn keinen Unterschied. Er zuckt mit den Schultern.
Ein Nachsatz der Verfassungsrichter ist der Trost der Heuersdorfer. Gerichtspräsident Budewig hatte sein Urteil mit dem Satz begleitet: „Das Gericht wertet nicht, ob hier politische Vernunft waltete.“ Ein klarer Satz, ein schwacher Trost. Er hilft den Heuersdorfern nicht.
Am Abend im Sportlerheim sind sie sich einig. „Wir ziehen nicht weg, sollen sie doch kommen.“ Es ist der erste Abend nach dem Urteil.