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Archiv-Artikel

Der Rummenigge-Brunnen

Ein Besuch im westfälischen Lippstadt, der Heimat der Brüder Michael und Karl-Heinz R.

Es ist in der deutschen Publizistik ein enormer Mangel an Aufmerksamkeit für Lippstadt nicht zu übersehen. Warum? Hat das mit der misslichen Lage Lippstadts zu tun? Mitnichten.

Lippstadt liegt unfassbar unauffällig und brav im eher nördlichen Teil der Republik herum und wäre nicht Lippstadt, wenn es nicht Lippstadt wäre und sich nicht – in erbitterter Konkurrenz zu einerseits Paderborn und andererseits der Hammermetropole Hamm (Westfalen) – sämtlichen Eindringlingen und Marodeuren aus dem Umland erwehren würde. So nimmt nicht wunder, dass die Lippstädter Führungsriege um den sozialdemokratischen Bürgermeister Jakob Köhnen jahrzehntelang alle verfügbaren Kräfte darauf konzentrierte, die Übernahme der Stadt und ihrer Institutionen, etwa des Rathauses und des Bernhardbrunnens, durch Paderborner Kräfte in einer unerbittlichen mentalen Abwehrschlacht zu verhindern. Gelungen ist dies, sofern der zwischen frühgotischer Stiftsruine und Palais Rose schweifende Augenschein nicht trügen möchte, wohl kaum, aber fast. Sodass Lippstadt vorerst aufatmet und sich anderen Fragen der Daseinspflege widmet.

An vorderer Stelle steht dabei die tägliche Propaganda gegen die Sausäcke aus Soest, die Ödekel aus Oelde und die Geldesel aus Gütersloh. In einem solchen flachen Dreieck aus elementarer Ungunst, agrarischer Prostitution und fiskalischer Paralyse sich als Kommune und Stadt zu behaupten, kommt einem permanenten, beinahe unmenschlichen Akt der Auflehnung und Zuwiderhandlung gegen jede nur denkbare Sitte gleich. Dem Ortsunkundigen, der zwischen Heller Halle und Dunkler Halle umherwandelt, wird daher nicht entgehen, dass ein gerüttelt Teil der hiesigen Bevölkerung eine „kleine Schramme an der Birne“ (Udo Lattek) sein Eigen nennt. Deshalb, womöglich, wendet die – zumal publizistische – Welt sich von Lippstadt zusehends ab und interessanteren Vorfällen in Telgte, Melle, Brake, Lage, Bünde und Anröchte zu.

Erhebliche Impulse für das Fortkommen Lippstadts versucht die in der Geiststraße ansässige Buchhandlung Egner zu vermitteln. Das seelische Brainpowering und die hirnchemische Stabilisierung der Lippstädter Bürgerschaft mit hochwertiger Literatur allerdings scheinen kaum anzuschlagen. Rund ums Kiskerwehr werden mehr und mehr dunkle Bewegungen registriert. An der Nördlichen Umflut fiel neulich eine Gans um, und der Bürgerbrunnen vor dem Stadtpalais zeigt deutliche Spuren von nichts.

Was Lippstadt gleichwohl in Bälde und Zukunft ein gewachsenes Gewicht im Fokus der Öffentlichkeit zuschustern könnte, ist nicht die Tatsache, dass sich hier, inmitten eines recht einzigartigen mulchig-sozialdemokratisch-protofaschistischen Kartoffelschnapsambientes, Pastor Martin Niemöller hat gebären lassen; sondern der Fakt, dass diese Stadt unweit des Bernhardbrunnens eine „Management Akademie“ installierte. Das mag nicht viel bedeuten. Aber es weist, als Factum brutum, gewissermaßen auf das größte Brüderpaar in der Geschichte Lippstadts hin, auf die von Günter Grass in seinen Lippstädter Papieren verewigten Rummenigge-Brüder.

Michael, der jüngere der beiden Kickercracks, stand bei Borussia Dortmund unter Vertrag. Im Anschluss an den erfolglosen Abschluss seiner Karriere übernahm er den Fanshop des BVB, bis er geläutert nach Lippstadt zurückkehrte und in der Langen Straße einen Sportartikelladen eröffnete, den er im Sommer des Jahres in die glänzendste Räumungsverkaufsphase der Geschichte Lippstadts überführte („minus 70 %“) und am 3. September 2005 für alle Zeiten unwiderruflich zusperren ließ.

Nicht wesentlich anders der Karl-Heinz. Mit Rummenig’schen Methoden errang er zweimal den Titel des Fußballvizeweltmeisters und 2002 den Posten des Vorstandsvorsitzenden der FC Bayern AG. Weil er von Jugendbeinen an den traditionsreichen Lippstädter Sport- und Freizeitgedanken zur Genüge verinnerlicht hat, versäuft er heute allsonntäglich die Einkünfte aus dem Merchandising-Geschäft in seiner Grünwälder Holundergeistrunde.

Verdanken tun wir dies alles einem leider für immer Verstorbenen, dem Vater der zwei Rummenigge-Brüder. Gern hielt sich Rummenigge sen. einst in der für derartige Umstände nicht unbekannten Poststraße an unbezifferbaren Quanten psychischer Getränke gütlich, um anschließend zum Lobe seiner Brut durch die Lippstädter Kernstadt zu pölken. Nachdem der Erstgeborene dann mal im Fernsehen ein wichtiges Tor erzielt hatte, erklomm der alte Herr den Bernhardbrunnen, schrie das Wunder mit Bierwucht hinaus ins Reich und stürzte augenblicklich kopfüber in den Tod.

Wer das Renommee Lippstadts mehren möchte, erzähle diese unglaubliche Geschichte jedem, der sie partout weder hören noch bemerkenswert finden will. Und besuche den Rummenigge-Brunnen, auf dass es wirklich zu nichts gut sein möge.

JÜRGEN ROTH