: Alles ist reine Musik
OPER Mit der Staatskapelle wird die „Götterdämmerung“ zum klingenden Kosmos jenseits des Textes: Die Berliner Staatsoper gab den letzten Teil des neuen „Rings des Nibelungen“
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Der letzte Akkord der „Götterdämmerung“ verklingt. Es ist so ruhig im Saal des Schillertheaters, dass man die Klimaanlage rauschen hört, die sich schon vorher immer mal wieder störend vernehmen ließ. Dann das erste Klatschen des Publikums. Es klingt nicht ergriffen, sondern verwundert. War es das? Der totale Wagner im finalen Rausch des Untergangs? Nein, das war es nicht. Nur ein Orchesterstück ging zu Ende, in reinem Dur und riesiger Besetzung, sechs Harfen und acht Hörner waren nötig. Sie spielen ein aufgehelltes, kühl gesetztes Forte als Schlusspunkt, mehr nicht.
Mit Harry Kupfer zusammen hat Daniel Barenboim Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ schon zweimal einstudiert, zuerst in Bayreuth 1988, und dann, kurz nach dem Zusammenbruch der DDR auch an der Berliner Staatsoper. Der Erfolg in Presse und beim Publikum war groß, aber der Maestro hatte noch lange nicht genug. Es war wohl nicht ganz der Wagner, den er allein hörte, es war – vielleicht – viel zu sehr nur die Musik zu einem Theater mit tonnenschweren ideologischen Lasten. Ein Mann wie Kupfer war gewohnt, sie zu stemmen, um Botschaften zu verkünden über den Zustand der Gesellschaft von heute, aufgeführt im Irrenhaus von Richard Wagners Textbüchern.
So wird es auch in diesem Jahr an praktisch jedem Stadttheater weitergehen, das den „Ring“ einstudiert, weil Wagner 200 Jahre alt würde, wenn er noch lebte. Aber er lebt nicht mehr. Für Bayreuth hat sich Frank Castorf überreden lassen, die Geschichte weiterzuschreiben, assistiert von Kyrill Petrenko, der an der Berliner Komischen Oper bewiesen hat, dass er bei jedem noch so wüsten Einfall eines Regisseurs Orchester und Sänger einigermaßen im Takt halten kann.
Barenboim dagegen liebt Wagners Musik. Das ist wörtlich zu nehmen. Liebe macht blind, in diesem Fall blind für all das, was seit Nietzsche der „Fall Wagner“ heißt, ein Gegenstand von Debatten also, die zur Stellungnahme zwingen. Antisemit und Protonazi oder nicht? Die Staatskapelle spielt die ersten Takte des Prologs zur „Götterdämmerung“, und diese Fragen stellen sich nicht mehr.
Unter Barenboim hat dieses Orchester eine Spielkultur entwickelt, die Unglaubliches möglich macht. Eine Klarinette klingt mal scharf, mal weich und geheimnisvoll, das Blech darf schnarrend dröhnen, danach wieder metaphysisch strahlen, der Streicherchor vibriert vor Spannung, die sich auflöst in klares Licht, das die nächste Wendung und Variation der Motive beleuchtet. Nichts klingt wie erwartet, auch das Bekannte nicht, weil es verbunden ist mit Elementen und musikalischen Kontexten, die man so noch nie gehört hat.
Reine Musik ist das, reich und sinnenbetörend schön. Aus ihrer eigenen Logik heraus bezieht sie auch Singstimmen ein, von Solisten und Chor. Sie singen Texte, die brav im Wortlaut über dem Bühnenportal nachzulesen sind. Wagner war stolz darauf und hielt sein Textbuch für ein Drama. Es ist überwiegend Unfug. Bedeutend daran sind nur die Rückwirkungen auf die Musik. Barenboim nimmt sie sehr sorgfältig auf, etwa so wie ein Analphabet die Bibel liest. Er erkennt Strukturen, wiederkehrende Zeichen und lässt sie erklingen.
Das geht nicht immer so gut aus wie mit dem Orchester. Iréne Theorins Stimme vor allem flattert selbst dann noch, wenn sie leise und sanft klingen sollte. Das kommt zwar nicht oft vor in der Rolle der Brünnhilde, die sie übernommen hat, stört aber doch sehr und bringt merkwürdig schroffe Härten in das subtile, mitunter zur intimen Kammermusik herabgestimmte Gewebe. Die anderen Frauen, Nornen und Rheintöchter, und die Männer kommen dann besser damit zurecht, ihre individuellen Stimmen einfließen zu lassen in den Barenboim’schen Kosmos des Klangs.
Wer ist Brünnhilde? Diese Frage hätte die Regie zu beantworten. Aber sie fehlt in diesem „Ring des Nibelungen“, mit dem der Musiker Barenboim sein ganz und gar persönliches Bekenntnis zu Richard Wagner abgibt. Man kann es tragisch finden, vielleicht ist es eher komisch, dass ausgerechnet die Mailänder Scala ihrem Chefdirigenten einen Mann zur Seite stellte, der in Belgien mit Dingen von sich reden machte, die mit Schauspiel und Oper nichts zu tun haben.
Guy Cassiers leitet das sogenannte Toneelhuis in Antwerpen, das sich selbst als „Biotop“ für multimediale Installationen aller Art versteht. Für den „Ring“ ließ er sich von einem Relief-Fries inspirieren, den der heute nahezu unbekannte Künstler Jef Lambeaux 1898 für einen Pavillon in Brüssel entworfen hatte.
Unter dem Titel „La condition humaine“ sind dekorativ ineinander verschlungene nackte Körper zu sehen. Bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert, farbig angeleuchtet und von Videoprojektionen überlagert bilden sie vom „Rheingold“ bis zur „Götterdämmerung“ dem immer gleichen Hintergrund der Bühne. Davor staksen ungelenk und schwer beladen von ihren Kostümen Sänger und Sängerinnen herum, die offensichtlich auch nicht wissen, wohin sie geraten sind. Denn wirklich zu sehen ist nichts. Es wabert alles nur symbolisch vor sich hin, manchmal turnt auch noch eine Tanztruppe herum.
Wer wissen möchte, was denn dieses oder jenes nun zu bedeuten habe, sitzt im falschen Film und sollte sich im Programmheft die Zitate von Slavoj Žižek und Alain Badiou anstreichen. „This is the end, my beautiful friend“, sangen die Doors. Passend wie immer steht die Zeile am Anfang eines der vielen Texte, die das Programmbuch mit den leer laufenden Vokabeln des akademischen Mainstreams füllen.
Der arme Barenboim, möchte man meinen. Aber er muss einem nicht leidtun. Zum Schlussakkord der „Götterdämmerung“ verschließt Cassiers die Bühne mit einem nunmehr klar erkennbaren Foto des Frieses von Lambeaux. Schwülstiger Kitsch, mehr war da nie dahinter. Wer bei Wagner mehr sucht als die Musik, die Barenboim spielt, wird zu Recht bestraft. Nämlich mit dem Text, den Cassiers sehr wohl kongenial übersetzt hat.