: Bundesregierung entschärft Giftkontrolle
Obwohl sich die Warnungen vor gefährlicher Chemie in Alltagsgegenständen häufen, setzen Merkel & Co. andere Prioritäten: Sie wollen die Anforderungen der geplanten EU-Richtlinie an die Produzenten senken und so wirksame Kontrollen verhindern
VON HANNA GERSMANN
Das chemische Innenleben von Autos, Kleidern oder Stiften bleibt eine Blackbox: Auf Druck der Wirtschaft verhindert die schwarz-rote Koalition eine effektive Giftkontrolle, wie sie die EU mit ihrer Chemiereform Reach eigentlich angestrebt hatte. Allein die Chemielobby sperrt sich – und erringt einen Erfolg nach dem anderen. Jüngster Durchbruch: Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) forderte in Brüssel „für die Industrie eine realistische Lösung“.
Dabei spricht die Erfahrung gegen laxe Standards. Erst in dieser Woche fanden die Tester von Ökotest giftige Weichmacher in Spielzeug. Diese Substanzen wirken wie Hormone, wenn sie sich lösen und vom Kind aufgenommen werden – sie beeinträchtigen die Fortpflanzungsfähigkeit. Und längst plädieren auch Firmen wie H&M oder Electrolux für einen besseren Schutz. Sie fürchten Rückrufaktionen. Der schwedische Moderiese musste bereits tausende Kinderregenjacken zurücknehmen, weil diese mit dem Hormongift Tributylzinn verseucht waren.
Die Merkel-Regierung setzt jedoch andere Prioritäten. Deutschland ist der größte Chemiestandort Europas. Die hiesigen Firmen wie BASF und Bayer beherrschen 25 Prozent des europäischen Marktes. Ihnen kommt ein Satz auf Seite 11 der Koalitionsvereinbarung entgegen: „Wir wollen bürokratische EU-Regelungen, wie zum Beispiel die Chemikalienrichtlinie, die die Wirtschaft unnötig belasten, auf wirklich unumgängliche Regelungen beschränken.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die Chemiepolitik zur Chefinnensache gemacht. Letzten Freitag, so erfuhr die taz aus Regierungskreisen, gab es im Kanzleramt einen Chemiegipfel mit Vertretern aus dem Umwelt-, Wirtschafts- und Arbeitsministerium, dem Chef des Verbandes der Chemischen Industrie und dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie.
Die Wirtschaft punktete mit ihrem Argument, dass die geforderten kostspieligen Tests „nur zu Datenfriedhöfen“ führen würden. Ihr Beispiel: Selbst ein Farbpigment, das in einer Keramikfliese fest eingebrannt sei, solle in Tierversuchen geprüft werden. Dabei könne der Stoff nicht in die Umwelt entweichen.
Nun kämpft die Merkel-Regierung für folgende Regelung: Hersteller müssen Chemikalien nicht prüfen, wenn sie erstens nicht mehr als 100 Tonnen davon herstellen und diese zweitens Verbraucher und Umwelt nicht direkt belasten. Wie giftig die Substanz ist, bleibt offen. Schädigt sie den Arbeitnehmer, der die Fliese produziert? Und wer garantiert, dass das Pigment nicht doch im Suppenteller aus Keramik landet?
Schon das Europaparlament hatte das neue Regelwerk Mitte November zugunsten der Industrie verändert. Die Chemiereform sollte Unternehmen ursprünglich dazu bringen, ökologische Produkte zu entwickeln. Umweltminister Gabriel jedoch sagt: „Unternehmer sollen ermutigt, aber nicht gezwungen werden.“ Am 13. Dezember will der Europarat die gestutzte Chemiereform verabschieden.