: Denn sie wissen, was sie nicht tun
Die Kanzlerin referiert jedes Detail des Koalitionsvertrags und lobt die kleinen Schritte – die Oppositionsparteien üben sich in einer neuen Klatschordnung
Sie hat nichts ausgelassen. Sie hat alles aufgezählt, was sie nur aufzählen kann, um zu beweisen, dass ihre neue Regierung zu vielen neuen Taten bereit ist. Die Liste der Vorhaben ist lang. Vom Planungsbeschleunigungsgesetz bis zur energetischen Gebäudesanierung – Angela Merkel hat jedes kleinste Detail des Koalitionsvertrags genannt. Auch ein großes Ziel wurde verkündet. Man wolle die Voraussetzungen dafür schaffen, hat Merkel gesagt, „dass Deutschland in zehn Jahren wieder unter den ersten drei in Europa steht“. Es fehlt nur noch ein guter Schluss. Eine Pointe. Ein Satz, der alles abrundet und im Gedächtnis bleibt. Vielleicht kommt so ein Satz ja jetzt. Denn Merkel drosselt plötzlich ihr bis dahin rastloses Redetempo. Die Kanzlerin macht eine bedeutungsvolle Pause und sorgt damit für neue Spannung.
„Meine Damen und Herren“, sagt Merkel schließlich. Sie sagt es laut, eindringlich, zum Zeichen, dass ein neuer Redeteil beginnt. Falls einer der sechshundert Damen und Herren Abgeordneten eingenickt sein sollte zwischen der „Stärkung der internationalen Institutionen“ und dem „letzten Teilstück der Ostsee-Autobahn“. Alle sollen wieder zuhören. Und es lohnt sich, denn es folgt – tatsächlich eine Pointe.
„Viele werden sagen: Diese Koalition geht viele kleine Schritte und nicht den einen großen“, ruft Merkel. „Und ich erwidere: Ja, genauso machen wir es.“ In diesem Moment ist die Verwandlung der Angela Merkel vollzogen.
Aus der radikalen Kanzlerkandidatin ist jetzt endgültig eine moderate, moderierende Bundeskanzlerin geworden. Im Wahlkampf hatte sie verkündet, sie wolle „durchregieren“, das Land „grundlegend verändern“ und „Politik aus einem Guss“ betreiben. Nun erklärt dieselbe Frau, eine Politik der „kleinen Schritte“ sei erstrebenswert. Ja mehr noch, auf einmal wird diese Politik der „kleinen Schritte“, die Merkel in sieben Jahren Gerhard Schröder immer viel zu wenig war, zum Nonplusultra, zum Ideal. „Denn das ist ein moderner Ansatz“, sagt sie.
Wer das nicht gleich versteht, bekommt ein schönes Bild geliefert. Eine Erklärung ihrer Regierungsstrategie, die dann doch wieder zur Physikerin Angela Merkel passt – und vor allem zur ersten Kanzlerin in der Geschichte, die von dem Ergebnis ihrer Wahl im Bundestag per SMS erfahren hat, noch bevor es offiziell verkündet wurde. „Es hat sich herausgestellt“, sagt Merkel, „dass die Vernetzung vieler kleiner Computer sehr viel leistungsfähiger ist als dieser eine, große Rechner. Der Erfolg des Internets beruht genau auf dieser Philosophie.“ Alles klar?
Was Merkel damit wohl sagen möchte: Die verfeindeten Volksparteien Union und SPD haben umgeschaltet. Aus zwei Kräften, die immer gegeneinander oder aneinander vorbeigeredet haben, ist eine Kraft geworden, ein Projekt, eine große Koalition, bei der ein Rädchen hübsch ins andere greift. Und wenn alle „Deutschland dienen“, kommt Deutschland spätestens in zehn Jahren wieder auf Platz drei.
Eine hübsche Illusion. An die Merkel selbst nicht wirklich glauben kann. „Wer hätte das gedacht“, hat sie am Anfang gefragt, „dass SPD und Union so viel Verbindendes entdecken?“ Da hat die Opposition herzlich gelacht. Merkel hat nicht gelacht – sie hat anschließend einfach ihre lange Liste vorgelesen.
Die Listenvorleserin, das ist die Kanzlerin Angela Merkel. Aber – und das ist ihr Dilemma – es gibt ja auch noch die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel. Und die muss zu verstehen geben, dass sie sich nur halb verwandelt hat. Dass sie ihre Ziele, für die sie im Wahlkampf antrat, nicht aufgibt. Dass sie nur den Weg zu diesen Zielen den Möglichkeiten anpasst. Den Möglichkeiten, die mit der SPD drin sind. Sie zitiert der Koalitionsfreundlichkeit zuliebe den SPD-Kanzler Willy Brandt („Mehr Demokratie wagen“) und fügt dann doch ihr eigenes Motto hinzu: „Lasst uns mehr Freiheit wagen.“ Da klatscht die FDP ganz laut. Es ist eine kurze Reminiszenz an schwarz-gelbe Blütenträume. Die SPD klatscht am Ende auch, aber nur leise. Einerseits sind sie froh, dass sie Merkels große Schritte verhindern konnten, andererseits dürfte manchen schwanen, dass auch Merkels „kleine Schritte“ in eine Richtung gehen könnten, die noch mehr Wähler zur Linkspartei hintreibt. Als SPD-Fraktionschef Peter Struck sagt, es könne sein, dass in der Regierungspolitik möglicherweise „die große lange Linie vermisst“ wird, klingt es eher tröstlich. Über jeden weiteren Schritt, gibt er zu verstehen, wird noch verhandelt. Merkels Rede nennt er einen „soliden Grundstock“. Ein gutes Fazit. Merkel und Struck: Sie wissen, was sie nicht tun.
LUKAS WALLRAFF
Die drei schmalen Tortenstücke im Bundestag – ganz links, ganz rechts und in der Mitte zwischen den beiden dicken Volksparteiblöcken –, das ist jetzt die Opposition. Weil Union und SPD sich ab nun immer nur die Treue versprechen werden, bleibt es FDP, Linkspartei und Grünen überlassen, auf Widersprüche und Unverschämtheiten der Regierungspolitik hinzuweisen.
Da es allerdings auch Widersprüche und Unverschämtheiten zwischen den Oppositionsparteien auszutauschen gibt, ist es nicht mehr ganz leicht, die Meinungslager zum einzelnen Gegenstand zu sortieren. Erkennbar werden sie jedoch an einer neuen Klatschordnung, die sich anlässlich der Regierungserklärung von Kanzlerin Angela Merkel gestern im Bundestag zu etablieren begann.
Es gibt erstens den höhnischen Applaus, etwa wenn Linksfraktionschef Oskar Lafontaine für FDP-Chef Guido Westerwelle klatscht, wenn der die SPD kritisiert, weil die jetzt doch für die Mehrwertsteuererhöhung ist. Es gibt zweitens den ironischen Applaus: Etwa wenn die ganze Linksfraktion klatscht, weil Merkel wie auch später Unionsfraktionschef Volker Kauder anprangern, dass in Deutschland die Bildungschancen von der Herkunft abhängen – nachdem insbesondere die Union mit der Föderalismusreform dafür sorgt, dass sich daran so bald nichts ändern wird.
Und dann gibt es drittens den schlicht zustimmenden, meist leicht verbitterten Applaus: Etwa wenn die Grünen klatschen, weil Ilja Seifert von der Linksfraktion Kauder darauf hinweist, dass seine und Merkels „1:1-Umsetzung“ von EU-Richtlinien vor allem das Begräbnis des rot-grünen Antidiskriminierungsgesetzes meint, das die Diskriminierung von „Behinderten, Homosexuellen und Jüdinnen und Juden“ verhindern sollte.
Wobei festzuhalten ist, dass die Grünen sich sowohl mit Hohn und Ironie gegenüber der großen Koalition als auch mit Zustimmung zu irgendwem stark zurückhielten. Selbst als Lafontaines Co-Fraktionschef Gregor Gysi es „dreist“ nannte, wie die USA mit ihren CIA-Flügen zu mutmaßlichen Folterzwecken verfahren, nickte Grünenchefin Claudia Roth nur ganz zart, ließ aber die Hände ineinander ruhen. Am Montag hatte sie erst das Gleiche gesagt.
Es war FDP-Partei- und bald auch Fraktionschef Westerwelle, der als Erster nach Merkel reden durfte – schließlich stellt die FDP mit 61 Abgeordneten die größte der Oppositionsfraktionen. Die Linken haben 54, die Grünen bloß 51 Sitze.
Merkels Duzfreund erinnerte sie an die Tage des Wahlkampfs, als eine schwarz-gelbe Regierung noch so nahe schien und gemeinsam mit CSU-Chef Edmund Stoiber gar ein „Oppositionsgipfel“ veranstaltet wurde, auf dem man sich auf einen Politikwechsel einigte. „Nicht einen Personal-, sondern einen Politikwechsel haben wir gewollt“, rief Westerwelle.
Merkel aber wolle nun ihre Politik der kleinen Schritte „rhetorisch verbrämen“, dabei „bleibt es doch eine Politik der Trippelschritte – das ist zu wenig“. Mit Zitaten vom Wirtschafts-Sachverständigenrat griff Westerwelle den nach FDP-Meinung zu staatstreuen und wirtschaftsfeindlichen Koalitionsvertrag an. Aussagen der Unionisten Roland Koch und Friedrich Merz – „Den wird man in diesem Hause doch noch zitieren dürfen!“– dienten zum Beleg, dass eine große Koalition bloß Stillstand bringe.
So, wie Westerwelle den Erbwalter des schwarz-gelben Wahlkampfes gab, schien auch Gregor Gysi zunächst nicht ganz in der neuen Legislaturperiode angekommen zu sein. Er geißelte ausführlich die rot-grüne Steuer- und Wirtschaftspolitik, landete dann aber doch bei der Anklage, dass dieser Kurs, der die Kaufkraft der Leute und den Binnenmarkt vernachlässigt, von der großen Koalition fortgesetzt werde. Merkel „als Frau“ kritisierte Gysi dafür, dass sie keine „zwei oder drei Worte zur Gleichstellungspolitik“ verloren hatte.
Schließlich durfte auch Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn reden. Wie Westerwelle wandte er sich erst Merkel direkt zu und wies sie auf ihre Verwandlung von der Großreformerin zur Kleinschrittkanzlerin hin: „Wie haben Sie sich in so kurzer Zeit so massiv verändert!“, rief Kuhn.
Am Wirtschaftskurs der großen Koalition vermisste Kuhn die konsequente Lohnnebenkostensenkung für Niedriglöhner und ansonsten den Verbrau- cher-, Klima- und Umweltschutz. Dem neuen Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) versprach er: „Wir werden Sie grillen wie eine Öko-Bratwurst.“ Nach erstaunten Zwischenrufen setzte er hinzu, die Grünen „gehen mit Öko-Bratwürsten behutsam um – wir stechen nicht rein“.
ULRIKE WINKELMANN