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Archiv-Artikel

Aus dem Bauch des Kottbusser Tores

MINDMAPS Mit Füßen und Händen den Raum der Stadt vermessen: Die Skulpturen und Zeichnungen Larissa Fasslers zeigen, was eigentlich alle kennen – aber so noch nie sahen. Ein Porträt der kanadischen Künstlerin

VON KITO NEDO

Die Geräusche, die aus der kantig-verschlungenen Holzkonstruktion am Boden der Galerie September Berlin dringen, sind leise, aber sie klingen vertraut: Rauschen eines einfahrenden Zuges, das Akkordeonspiel eines Straßenmusikers und das Nachhallen von Schuhabsätzen auf dem Bahnsteig der Station. Anders als im Alltag hört man hier genauer hin – das passt zur Skulptur „Hallesches Tor“, einer modellhaften Nachempfindung der U-Bahn-Station im Maßstab 1:25. So, wie sie hier zu sehen ist, kann man sie in der Realität nie erleben.

Chirurgie am Stadtkörper

Denn die Künstlerin Larissa Fassler zeigt die Station, an der sich U 6 und U 1 kreuzen, als hätte ein riesenhafter Chirurg sie aus dem infrastrukturellen Gewebe der Stadt herausoperiert: als nackte technisch-räumliche Röhren-Struktur von miteinander verbundenen Tunneln, Treppen und Wegen. Was Fassler interessiert – die auf ähnliche Weise in den vergangenen Jahren auch den Kotti und den Alexanderplatz in Pappmodellen rekonstruierte –, ist eine individuelle Kartografie von urbanen Umgebungen, in denen sich der Stadtmensch jeden Tag bewegt. In diesen Räumen kreuzen sich Menschenströme und mit ihnen verschiedene Geschwindigkeiten.

Bei dem, was sie tue, sagt Fassler, gehe es darum, „unsichtbare Räume sichtbar zu machen“. Sie hat dafür eine besondere Vorgehensweise entwickelt. Nicht Pläne, Grundrisse, Archive stehen am Anfang einer Recherche, sondern das langwierige Abschreiten, Abzählen und Ausmessen eines öffentlichen Platzes mit dem eigenen Körper, den eigenen Schritten, Arm- und Fingerlängen oder Handbreiten.

So wird die Künstlerin zeitweise Teil derjenigen, die in den U-Bahnhöfen im Strom der Pendler tätig sind und ihn sich so auf diese Weise aneignen: Straßenzeitungsverkäufer, Straßenmusiker oder auch U-Bahn-Kontrolleure. Die Notizen, die im Laufe ihrer Vermessungstouren entstehen, nutzt Fassler im Atelier zur Herstellung ihrer modellhaften Übersetzungen. Die erzählen auch davon, wie man sich zu grobschlächtiger Nutzarchitektur mit einem subjektiven Maß ins Verhältnis setzen kann.

Dass ihre so subjektiv gewonnenen Modelle für Nichtarchitekten erstaunlich proportional wirken, quittiert Fassler mit einem Schulterzucken. Das Präzise, so die Künstlerin, Tochter eines Architekten, die jedoch selbst nie Architektur studiert hat, sei eben ihr Naturell.

Angefangen hatte alles nach Ende des Kunststudiums am Londoner Goldsmiths’ College 2003, als die gebürtige Kanadierin nach Berlin zog. Sie sei damals viel U-Bahn gefahren, sagt Fassler und habe die Leute in den Zügen und auf den Bahnsteigen beobachtet: ihre Art, die Stadt zu studieren. Aber fotografieren oder filmen wollte sie sie nicht.

Also fing sie an, statt der Menschen die Umgebung zu dokumentieren. Dass sie bei der Vermessung von Bahnsteigen, Treppen und Unterführungen Kunst produziert, verrät sie Neugierigen nicht. „Ich mache einen Plan“ sagt sie dann.

Die Orte, mit denen Sie sich beschäftigt, wählt sie aus verschiedenen Gründen. Den Alex, weil sie sich dort fortwährend verlief, das Hallesche Tor, weil es jahrelang wegen einer nahe gelegenen Wohnung „ihre“ Station war, das im letzten Jahr fertiggestellte Kotti-Modell, wegen der massiven Siebzigerjahre-Bebauung: brutalistisch und klotzig türmt sich das „Kreuzberger Zentrum“ über der Kreuzung. Es sollte einst als Puffer für eine nie gebaute Autobahntangente dienen. „Ich weiß, dass viele Leute dieses Haus für sehr hässlich halten“ sagt die Künstlerin, „doch ich mag es mittlerweile. Das ist Teil eines gescheiterten Masterplans – das interessiert mich, eine gescheiterte Utopie.“

Auffallend viele Off-Räume

Dazu gehört auch die architektonische Dysfunktionalität bestimmter Ecken, wie dunkle Durchwegungen, die weder von der Straße noch vom Haus selbst einsehbar sind: „stadtplanerische Totalfehler“. Neben dem Modell entstand 2008 auch eine großformatige Collage aus digitalisierten Zeichnungen Fasslers, in der sie selbst kleinste Details wie Sticker, Werbung oder Gas-Hausanschluss-Kennzeichnungen festhielt und mit Bildern und Mythen aus der Geschichte des Ortes, wie Demonstrationszüge oder einem Romanauszug ein psychogeografisches Mindmap erstellte.

Fassler selbst ist inzwischen Teil der Geschichte des Blocks geworden. Gemeinsam mit der Künstlerin Pia Fuchs organisierte sie im März 2006 eine Ausstellung im „WestGermany“, einem Off-Space am Kotti. Überhaupt finden sich in der Liste ihrer Auftritte auffallend viele Off-Räume, wie das SOX36, Abel, Program oder Sparwasser HQ. Doch eine Verächterin kommerzieller Galerien ist sie nicht, wie ihre derzeitige erste Ausstellung bei September zeigt.

„In Kanada“, sagt Fassler „ist die kommerzielle Szene nicht sehr interessant, dafür gibt es eine starke Szene von selbstverwalteten Projekträumen, zwischen denen ein starker Austausch stattfindet.“ In Berlin findet sie die Grenzen weniger klar definiert. Hier würden junge interessante Kuratoren auch mal eine Galerie eröffnen, wie etwa zuletzt Christine Heidemann und ihre Reception-Galerie auf der Kurfürstenstraße.

Berlin nur wegen seiner günstigen Produktionsbedingungen zu schätzen, wie es viele ihrer Expat-Künstlerkollegen tun, ist ihre Sache nicht: „Ich finde es viel interessanter, voll am Berliner Geschehen teilzunehmen.“ Sie weiß, wie es geht.

■ Larissa Fassler bei September, Charlottenstr. 1, Di–Fr 12–19 Uhr, Sa 12–18 Uhr, bis 31. Januar