: Erinnerung, eingefräst
RASSENPOLITIK Vor 70 Jahren wurden in Bremen und Hamburg Hunderte Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert – ins „Zigeunerfamilienlager“
Auch heute werden wieder viele Leute an der Metallplatte vorbeikommen, dort, wo sie seit 18 Jahren steht, vor dem Fliederbusch an der Rampe, die zum Bremer Kulturzentrum Schlachthof hinaufführt. Nachmittags werden die Skater und BMX-Fahrer kommen, abends die Gäste des Chorfestivals. Rostrot ihr Hintergrund, mit einzelnen Flecken versuchter Schändungen. „In den letzten Jahren hat das nachgelassen“, sagt Matthias Otterstedt vom Kulturzentrum.
Die Buchstaben konnten die Schmierereien sowieso nie überdecken, denn die sind in die Metallplatte eingefräst. „Im März 1943 wurden Sinti und Roma aus Bremen und Norddeutschland vom Gelände des Schlachthofes aus in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert“, heißt der erste Satz.
Die Deportation begann am 8. März, frühmorgens: „Ein Tag, den ich wohl niemals vergessen werde“, berichtet der Sinto Rudolf Franz in dem Buch „Vom Schlachthof nach Auschwitz“. „Etwa gegen 7.00 Uhr morgens wurden meine Mutter, eine meiner Schwestern mit ihren beiden Kindern und ich selbst aus unserer Wohnung heraus von uniformierten und mit Karabinern bewaffneten Polizeibeamten verhaftet und zu der Polizeiwache in der Westerstraße gebracht.“
Von der dort ging es in einer schon größeren Gruppe weiter zum Schlachthof auf der Bürgerweide, wo insgesamt 275 deutsche Sinti und Roma in einer leeren Halle zusammengepfercht wurden. Um die Familien, die in Wagen lebten, zu beruhigen, durften manche diese noch mitnehmen. Gegenwehr sollte aber hauptsächlich dadurch verhindert werden, dass die Polizisten ihnen erzählten, man würde sie mit ihren Familien in Polen neu ansiedeln. Viele wollten es nur zu gern glauben.
Insgesamt verließen in diesen Tagen drei Transporte den Bremer Hauptbahnhof, der erste am 9. März, heute vor 70 Jahren. Sie endeten an der Rampe zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo nach dem „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942 das sogenannte „Zigeunerfamilienlager“ errichtet worden war. Abgeliefert wurden sie von ganz normalen Bremer Beamten des „Zigeunerdezernats“ um Kriminalsekretär Wilhelm Mündtrath, die nach dem Krieg ungeschoren davonkamen. Von den Deportierten haben die wenigsten überlebt.
Szenen wie am Bremer Schlachthof spielten sich im März 1943 überall in Deutschland ab. Einige Städte hatten bereits in den 30er-Jahren bewachte Sammellager eingerichtet, in denen die Sinti und Roma konzentriert wurden, wie in Berlin-Marzahn oder im Altwarmbüchener Moor bei Hannover. Nicht überall blieben die Polizisten Herr der Lage. Im Hamburger Fruchtschuppen C, von wo aus am 11. März 328 Sinti und Roma aus Hamburg und Schleswig-Holstein deportiert wurden, kam es am 9. März zu Tumulten. Der Hamburger Kommandeur hieß Kurt Krause.
„Krause war der Leiter der Aktion. Als ich meiner Schwiegermutter einige Decken und Lebensmittel zum Schuppen bringen wollte, kam Krause auf mich zu und bedrohte mich mit der Pistole“, berichtet ein Überlebender in einer Studie des Historikers Ulrich Prehn. Um die sich bildende Menschenmenge aufzulösen, musste Krause die SS zu Hilfe holen.
Bereits 1940 waren vom Fruchtschuppen C eintausend Sinti und Roma aus einem Gebiet von Bremen bis Flensburg ins Lager Belcek ins „Generalgouvernement“ deportiert worden. Noch Jahrzehnte lang unterschieden die Wiedergutmachungsbehörden zwischen den Deportationen von 1940 und 1943. Bei denen, die aufgrund des „Auschwitz-Erlasses“ deportiert wurden, konnten die rassistischen Gründe schon wegen dessen Formulierung nicht bezweifelt werden. Jene aber, die davor in Konzentrationslager verschleppt wurden, mussten noch lange gegen die Unterstellung kämpfen, wegen „Asozialität“ oder „Kriminalität“ verfolgt worden zu sein.
Damit folgten die deutschen Behörden nach 1945 exakt der Argumentation der Nationalsozialisten. RALF LORENZEN