: Sag, wie du’s mit Hugo hältst
AUS CARACAS CHRISTOPH TWICKEL
Wilde Streiks, Proteste gegen den Dreck der benachbarten Zementfabrik, Widerstand gegen Polizei und Militär – die Leute von La Vega waren seit je aufsässig. Die Ziegelhütten des armen Viertels von Caracas sind bis dicht an die Gipfel der Bergkette im Südwesten von Venezuelas Hauptstadt gebaut. „Wiege der Volkskämpfe“ hat der Protestsänger Ali Primera La Vega einmal genannt. Dass sich dessen kampferprobte Bewohner einmal mit Excel-Listen beschäftigen müssten, um ihre politischen Ziele zu erreichen, hätte hier vor ein paar Jahren noch niemand gedacht.
Seit 1998, seit also der Linkspopulist Hugo Chávez Präsident ist, wird in Venezuela Revolution an der Wahlurne gemacht. Auf den Campingstühlen neben dem Zelt des hiesigen Wahlstützpunkts sitzen vierzig Wahlhelfer des chavistischen Parteienblocks Bewegung Fünfte Republik (MVR). In der lauen Abenddämmerung folgen sie den Worten ihres compañero Edgar García. Der erläutert mit Hilfe von Laptop, Leinwand und Videobeamer die Tücken des Wahlregisters: In der projizierten Excel-Tabelle zeigt er, wie man die entsprechende Wählerliste welches Wahllokals findet und was man dabei alles falsch machen kann. Interessant wird es bei der letzten Spalte der Liste: Sie verzeichnet die politische Neigung des jeweiligen Wählers. Hinter den meisten Namen steht da „noch unentschieden“, bei einigen „patriota“ oder „escuálido“. Escuálidos, die „Abgemagerten“ nennt Chávez die Vertreter der Opposition; den Ehrentitel „Patriot“ behält er seinen eigenen Anhängern vor. Edgar García mahnt seine Propagandisten: „Ihr müsst vor allem unsere eigenen Leute mobilisieren! Bei denen von der Opposition lohnt sich die Mühe nicht.“
Seit Jahren schon behauptet die – übrigens mit US-Regierungsgeldern unterstützte – Bürgerrechtsorganisation „Súmate“, die Regierung Chávez verletze das Wahlgeheimnis. Die Excel-Liste mit der Gesinnungsspalte scheint diese These zu belegen. Tatsächlich aber hat Súmate selbst dafür gesorgt, dass die Namen der Chávez-Gegner öffentlich werden konnten. Vor zwei Jahren hat es die Organisation geschafft, dass 20 Prozent der Wahlberechtigten die Forderung nach einem Referendum unterschrieben, das über einen vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten entscheiden sollte. Diese Listen hat das Wahlamt veröffentlicht – so wie im Gesetz vorgesehen. Ein findiger Abgeordneter der regierenden MVR musste sie dann nur noch mit dem Wahlregister abgleichen.
Wahlbetrug hat in Venezuela Tradition. In den 80er- und 90er-Jahren ließ das Militär systematisch Urnen verschwinden, und die Wahlhelfer der damals regierenden Demokratische Aktion (AD) und der christdemokratischen Copei pflegten in oppositionellen Gegenden die Ergebnisse wegen angeblicher Formfehler zu annullieren. Um größtmögliche Legitimität bemüht, hat die Regierung Chávez deshalb die Wahlverfahren immer aufwändiger gestaltet. Doch weder die Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter noch eine zweite Auszählung konnten die Opposition im August diesen Jahres bewegen, das Scheitern des Referendums gegen Chávez zu akzeptieren.
Den Vorwurf, die Wahlen zu manipulieren, erheben die Oppositionsparteien auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung am Sonntag. Der Streit darüber spaltet sie zutiefst. Die sozialdemokratische MAS, die sich im ersten Regierungsjahr von Chávez losgesagt hat, tritt an; AD und Copei dagegen haben am Dienstag bekannt gegeben, auf den Wahlgang zu verzichten. Und das, obwohl das nationale Wahlamt kurz zuvor ihrer Forderung stattgegeben hatte, auf das Registrieren von Fingerabdrücken zu verzichten. „Sie haben es eingesehen“, spottet Chávez nun, „sie ziehen sich zurück, weil sie keine Stimmen haben.“
Tatsächlich ist das Opfer für AD und Copei klein: Die beiden Parteien, die das Land vierzig Jahre lang gemeinsam regiert haben, wären im neuen Parlament höchstens mit einer Hand voll Abgeordneter vertreten gewesen. Die Führung der derzeit stärksten Anti-Chávez-Partei, Primero Justicia (PJ), ist noch uneins: Während der Generalsekretär am Mittwoch den Rückzug ankündigte, wollen drei Kandidaten nun auf eigene Faust in die Wahl gehen.
Hier in La Vega ist man sicher, dass der Rückzug der Opposition nur ein Schachzug ist: „Diese Parteien sind politisch tot“, sagt William Mantilla, Kandidat des chavistischen Wahlbündnisses. „Die machen jetzt Stimmung, damit sie nachher sagen können, die Wahlen seien ungültig gewesen.“ Der 47-Jährige, der in den Achtzigern als Streikführer der hiesigen Textilarbeiter zum Aktivisten wurde, gehört bis heute nicht zum politischen Establishment. „Antiimperialistisch und sozialistisch“ steht auf seinem Wahlplakat, doch mit dem Kadersozialismus alter Schule hat Mantilla nichts am Hut. Bis heute weigert er sich, einer Partei beizutreten. „Ich bin Teil einer autonomen Volksbewegung, die sich aus sozialen Organisationen gebildet hat“, sagt er, „Landkomitees, Kooperativen, lokale Medien und so weiter. Nachbarn eben.“ Mantilla will das umsetzen, was im chavistischen Jargon „partizipative Demokratie“ heißt – ein Konzept, das in der lateinamerikanischen Linken seit Jahrzehnten diskutiert wird. „Parlamentarismus der Straße“ nennt er sein politisches Prinzip: „Das Erste, was wir machen werden, wenn wir im Parlament sind, ist, eine große Versammlung einzuberufen hier im Wahlkreis. Wir wollen unser Programm mit den Leuten zu besprechen: Was sollen wir ins Parlament einbringen? Welche Gesetze brauchen wir? Und was soll drinstehen? Wir werden hier vor Ort Abgeordnetenbüros einrichten, wo wir mindestens einmal die Woche Sprechstunden abhalten.“
Ein Projekt ganz oben auf Mantillas Liste ist das Gesetz zur Reform und Vereinheitlichung der Polizei. In Venezuela befehligt jeder Bürgermeister seine eigenen Ordnungshüter. Allein in Caracas fahren fünf verschiedene Polizeieinheiten Streife. Die Policía Metropolitana etwa ist in den Barrios von Caracas als korrupte Killertruppe verschrien, die tief in den Waffen- und Drogenhandel verstrickt ist. Bei einem Putschversuch gegen Hugo Chávez im April 2002 richtete die Polizei des damaligen oppositionellen Oberbürgermeisters ein Blutbad unter den Demonstranten an – der Fall wurde niemals aufgeklärt. Heute bekleidet zwar ein Chavist das Amt des Oberbürgermeisters; der Forderung der Nachbarschaftskomitees von La Vega, die Polizei nicht mehr im Viertel patrouillieren zu lassen, hat er trotzdem nicht stattgegeben. Und er wird es wohl auch nicht tun.
Auch wenn die chavistische Rhetorik Geschlossenheit suggeriert – im siebten Jahr der „bolivarischen Revolution“, wie Chávez sein Projekt nennt, wird die Kluft zwischen politischem Establishment und den sozialen Bewegungen immer deutlicher. Schon bei den Gemeindewahlen im Sommer sorgte die MVR dafür, dass unter ihren Kandidaten nur wenige Basisaktivisten waren: Nachdem die MVR sich zunächst gegenüber parteilosen Kandidaten aus den Barrios geöffnete hatte, sahen sich diese bald oft zugunsten linientreuer Parteisoldaten von den Listen gestrichen.
Auch im Vorfeld der Wahl am Sonntag hat das chavistische Wahlbündnis unabhängige Vereinigungen ausgebremst: Vorher festgelegte Koalitionen – so genannte morochas – bevorteilen Wahlbündnisse mit einer nationalen Liste gegenüber lokal verankerten Parteien. „Das hat die Gegensätze innerhalb der Bewegung entfesselt“, umschreibt Mantilla diplomatisch den Konflikt. „Viele Leute sind gegangen, aber viele sind auch zurückgekommen, weil unsere Einheit eben die einzige Garantie dafür ist, dass es mit dem revolutionären Prozess weitergeht.“
Und diese Einheit hat einen Namen: Hugo Chávez. Die 20.000 kubanischen Ärzte, die heute in den Barrios arbeiten, die Alphabetisierung von anderthalb Millionen Menschen, die 14.000 Volkssupermärkte mit subventionierten Preisen – Chávez’ radikale Sozialpolitik macht ihn als Garant jener „Volksmacht“ glaubwürdig, die seinen Funktionären und Bürokraten mitunter wenig behagt. „Chávez hat den großen Vorteil, dass er immer außerhalb der Machtverhältnisse beurteilt wird“, analysiert Ronald Denis, einst Planungsminister und heute Philosoph der sozialen Bewegungen, das Phänomen Chávez. „Er ist nicht Teil, sondern Opfer der Machtverhältnisse. Auf diese Weise retten die Leute auch sich selbst. Denn wenn der Präsident der Schuldige ist, macht nichts von dem Sinn, was wir hier tun.“
William Mantilla jedenfalls ist sicher, dass sein „Parlamentarismus der Straße“ ganz im Sinne Chávez’ ist: „Es gibt immer noch eine Menge Institutionen, die nicht ihre Pflicht erfüllen, sich gegenüber den Bürgern verschließen. Wir müssen uns dem Bürokratismus entgegenstellen und Antworten verlangen.“