: Medizin für die Seele
Jahrmarkt, Zirkus, Wanderbühne: Sam Shepard erzählt, wie er 1975 mit Bob Dylan auf Rolling-Thunder-Revue-Tour war
von FRANK SCHÄFER
„Dieser Text besteht nicht deshalb aus Fragmenten, weil es um ‚Kunst‘ gegangen wäre“, dekretiert Sam Shepard schon im ersten Satz, „sondern die Form ist unmittelbare Folge fragmentarischer Erinnerung.“ Insofern ist dann aber auch der Originaltitel „Rolling Thunder Logbuch“ missverständlich, denn Erinnerungen, und so auch diese, halten sich selten an die Chronologie. Shepard versucht hier in kleinen Anekdoten, Konfessionen, Illuminationen und manchmal auch bloß Zeitungsschnipseln die vielwöchige Tour Bob Dylans mit dessen Rolling Thunder Revue im Jahr 1975 nachzuzeichnen, und wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was er hier zu dokumentieren vorgibt und überdies von der amtlichen Rockgeschichtsschreibung so kolportiert wird, dann kommt dieser unordentlichen Montage durchaus eine gewisse onomatopoetische Qualität zu. Mit einem Wort, er beschreibt nicht nur das Chaos, das auf dieser als Gesamtkunstwerk angelegten, symbolistisch überfrachteten Minstrel-Show geherrscht haben muss, im Prozess des Lesens entsteht es gewissermaßen neu. Bei der Auswahl und Anordnung der Prosa-Schnappschüsse kommt dann doch wieder die Kunst ins Spiel, Shepards Tiefstapelei in allen Ehren.
Auf einer Tour durch die kleinen, ehemals geschichtsträchtigen Orte Neuenglands, wo die Pilgerväter begannen, auf dem neuen Kontinent Fuß zu fassen, revitalisierte Dylan mit seiner damaligen All-Star-Band, der sich zeitweilig auch Joan Baez, Joni Mitchell, Arlo Guthrie, Bowies Sidekick Mick Ronson etc. anschlossen, ein entsprechend anachronistisches Showkonzept. „Wenn elektrischer Rock ’n’ Roll sonst zu Heldenverehrung und blinder Anbetung avanciert ist, dann ist Rolling Thunder das Gegengift. Das Wundermittel. Jahrmarkt, Zirkus, Wanderbühne mit echtem ‚Wundermann‘, der wahre Seelenmedizin im Gepäck führt“, schwärmt Shepard pflichtschuldigst.
Auf der Spuren der Historie sollte hier etwas Historisches entstehen – das Kalkül zeigt sich nicht zuletzt daran, dass ein Filmteam die Tour begleitete und Shepard kurzerhand engagiert wurde, um während des gerade entstehenden Films das Drehbuch nachzureichen. Eine absurde, von vornherein zum Scheitern verurteilte Idee. Schon bald wird klar, dass man keinen auch nur halbwegs stringenten Plot hinbekommt, also verlegt sich Shepard auf kleine surreale Szenen, die man dann später zwischen die Konzertstrecken schneiden will, aber auch das missrät zumeist, weil die Musiker im Tourbus ihre Texte nicht lernen. Schließlich albert und improvisiert man nur noch herum. Naturgemäß kommt so kein Film zustande – Dylan sieht das anders und verwertet das Material später für sein obskures Mammutepos „Renaldo and Clara“ –, und Shepard wird immer unzufriedener, möchte am liebsten heim auf seine kalifornischen Ranch: „Wieso brause ich nicht mit den anderen los, um die tolle Musik zu hören? Ich kenne sie. Aber das ist es nicht. Es ist das fehlende Instrument. Das Parasitenleben hinter der Bühne. Das Herumgerenne in der Garderobe. […] Diese Sache schafft mich.“
Wohl auch weil hier Dope in einer Frequenz und Vielfalt eingepfiffen wird, dass er sich in die Sixties zurückversetzt wähnt. Immerhin, er macht sich Notizen, die die Grundlage für diese Fragmentsammlung bilden. Shepard ist denn auch ziemlich dicht dran, fängt feinnervig die seltsam unwirkliche, der Zeit und der Welt enthobene, ständig zwischen Anspannung, hektischer Betriebsamkeit und totaler Langeweile pendelnde Existenzweise auf Tour ein. Zudem gelingen ihm ein paar aufschlussreiche Porträtskizzen – etwa vom Stehaufmännchen Ginsberg oder dem Irrwisch T-Bone Burnett.
Nur an seinen Auftraggeber traut er sich so recht nicht heran. Dylan bleibt auch in Shepards Nahaufnahmen der undurchschaubare Magier, die abgründige Sphinx, der mythische Hobo-Barde. Er interessiert sich nur für die Kunstfigur, nicht für die Privatperson dahinter – da sind die vielen Bilder, die dem Buch seinen splendid Coffee-table-book-Charakter verleihen, fast noch intimer. Das spricht für seine Loyalität, Dezenz oder zumindest die genaue Einhaltung von Vertragsklauseln. Und liest sich alles angenehm frei von rockjournalistischem Voyeurismus.
Leider hat Shepard vor der Grenze zur Hagiografie nicht genauso viel Respekt. Einmal mehr darf Dylan nicht bloß ein brillanter Musiker sein, er muss auch noch als Prophet den Kopf hinhalten. Und das ganze Projekt Rolling Thunder „als lediglich weitere launige Tournee mit dem mysteriösen Mr. Dylan als Publikumsmagnet abzuhaken“ wäre selbstredend ebenfalls „zu einfach“. Warum eigentlich? Offenbar weil es so sein soll. Vielleicht auch, weil man gern an Ereignissen partizipiert, die das eigene kleine, profane Leben in Richtung Grandiosität transzendieren. Erklären kann es Shepard nicht: „Jenseits der explosiven Mischung von Persönlichkeit und Charisma liegt etwas in der Luft, aber niemand kann es fassen. Fast muss es so sein, damit die Suche weitergehen kann.“ Aha.
So liest man letztlich auch dieses vermeintliche „Logbuch“ mit Spannung: Man ist auf der Suche nach dem Schlüssel, der uns die Rolling Thunder Revue als exorbitantes Phänomen aufschließt. Dass Shepard ihn nicht liefern kann, ist vermutlich gar kein Fehler, sondern zeugt nur von der Authentizität und der Aufrichtigkeit seiner Notizen.
Sam Shepard: „Rolling Thunder. Unterwegs mit Bob Dylan“. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 191 Seiten, 19,90 Euro