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Archiv-Artikel

Wenn in der Steppe der Bär steppt

Mongoloid – so wurden die Menschen genannt, die das 21. Chromosom dreifach haben. Von einer spannenden Mongolei-Reise berichtet „Ohrenkuss“, die Zeitschrift von Leuten mit Downsyndrom. Bislang war die Fachwelt davon überzeugt, dass diese Menschen weder lesen noch schreiben können

von Tom Wolf

„Wir sind am See, wo die Zelte aufgebaut sind. Und die Jurten, wo wir da entlang geritten sind mit den Pferden. – Da gibt es auch so Steinhaufen, wo man dreimal rumlaufen muss. Und dass es Glück bringt. Und da war ich auf dem wilden Pferd. Wo er dann hochgesprungen ist. – Jetzt sitz ich im Schatten. Hier gibt es auch paar Grillen, ich hör die. – Ah! Jetzt räumen die auf! – Die spülen gerade ab. Die trocknen auch ab.“

Manche Reiseberichte sind so fantastisch, dass sie wie ausgedacht wirken. Die Reise in die Mongolei, von der das interne Logbuch der Ohrenkuss-Redaktion erzählt, hat tatsächlich stattgefunden. Egal ob selbst aufgeschrieben oder diktiert – die Texte in der Zeitschrift Ohrenkuss … da rein, da raus werden in puncto Rechtschreibung, Stil und Inhalt nicht verbessert. Die schönsten Texte aus dem Reiselogbuch wurden im gerade erschienen Heft 15 des Magazins veröffentlicht. Wie das zu seinem Namen kam, hat die Ohrenkuss-Autorin Angela Fritzen so beschrieben:

„Wir sahßen draußen im Kaffee und haben die Namen Zeitung gesucht – der Michael Häger hat die Katja aufs Ohr gekußt – alle schreihen Ohrenkuss – da rein da raus macht Michael. – Das heißt alles geht da rein und da wieder raus nur das wichtige bleibt im Kopf – Und das ist ein Ohrenkuss.“

Jeder, der „Trisomie 21“ hat, darf für das Heft schreiben. Menschen ohne Handikap dürfen dagegen nur Diktate aufnehmen oder sich um die Logistik kümmern. Die Redaktion sitzt in Bonn, im 14-täglichen Rhythmus werden Projekte ausgeheckt und Themenhefte konzipiert. Das ist spektakulärer, als es klingt, denn bevor es den Ohrenkuss gab, war die Fachwelt davon überzeugt, dass jemand, der das Chromosom 21 dreifach besitzt, weder lesen noch schreiben kann. Früher hielt man diese Behinderung oder Entwicklungsstörung gar für eine Krankheit. Doch die Menschen mit dem Downsyndrom leiden nicht an einem Gebrechen, sondern unter der Menschen verachtenden Behandlung, die ihnen die Normalen zumuten.

John Langdon-Down (1828–1896) leitete ein Heim für geistig Behinderte im englischen Earlswood und beschrieb 1866 in „Observations on an ethnic classification of idiots“ seine Schützlinge nach der Rassenlehre des Göttinger Anatomen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Nach den äußeren Erscheinungsbildern unterschied er Kaukasier, Äthiopier, Malaien, Indianer und Mongolen. Die Langdon-Down’sche Bezeichnung „mongoloid“, also „wie ein Mongole aussehend“, wurde im Rahmen der späteren, aggressiven Rassentheorien abwertend besetzt. „Mongolismus“ wurde als Rückfall in einen Grenzbereich zwischen tierischer und menschlicher Existenz interpretiert – entsprechend einer angenommenen Minderwertigkeit der so genannten mongolischen Rasse. Viele Menschen mit „Mongolismus“ wurden im Zuge des NS-Euthanasieprogramms umgebracht. Erst um Mitte des 20. Jahrhunderts kam man den Chromosomen auf die Spur. An der eingangs erwähnten landläufigen Meinung über die intellektuellen Fähigkeiten der gemeinhin „Mongos“ oder „Downies“ genannten Menschen änderte das nichts. Sie galten weiterhin als unkreative Analphabeten. Die Humangenetikerin Dr. Katja de Bragança konnte diese Auffassung nicht teilen. Sie erlebte sie durchweg als aktiv denkend, äußerst empfindsam und kreativ. Sie setzte sich zum Ziel, das behindernde Vorurteil zu bekämpfen. Dies geschah sehr publikumswirksam und genial: Sie ließ die Betroffenen selbst an die Öffentlichkeit gehen.

Im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsvorhabens am Medizinhistorischen Institut Bonn entstanden 1998 die ersten Ausgaben der Zeitschrift Ohrenkuss. Die darin publizierten Texte hätten zuvor für unmöglich gegolten. Die Idee, mit der Redaktion in die Mongolei zu reisen, hatte Chefredakteurin de Bragança bereits zu Projektbeginn. Nach 14 Ausgaben schien ihr die Zeit reif zu sein.

Eine qualifizierte mongolische Reiseleiterin kümmerte sich um Fahrzeuge, Routenplanung, ums Dolmetschen sowie um die Besuche bei gastfreundlichen Familien. Die vor allem von der Viehzucht lebende mongolische Bevölkerung ist sehr mobil. Herauszufinden, wo bestimmte Jurten, die Rundzelte einer Gastgeberfamilie, gerade aufgebaut waren, grenzte oft an Hexerei. Die Mongolei ist viereinhalbmal so groß wie Deutschland und hat nur knapp zweieinhalb Millionen Einwohner.

Die Ohrenkuss-Leute wurden im Land der Mongolen, wo die kleinste Währungseinheit Mongo heißt, von niemandem schief angesehen. Wenn sie ihre Interviews führten – etwa mit mongolischen Ringern, einem buddhistischen Lama oder einem Polizisten in der Hauptstadt Ulan-Bator – kam ihnen das Dolmetschen sehr zupass. Menschen mit dem Downsyndrom können das schnelle oder undeutliche Sprechen der normal Entwickelten nur schwer verstehen. Durch den langsamen Prozess des Dolmetschens entlastet, konnten die Reporter in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Die Sprache der Autoren ist stets unmittelbar und sehr sinnlich, sie bringen die Dinge auf den Punkt. Wie die Autorin Veronika Hammel:

„Wenn man aufs Klo muss, muss man weiter weg gehen. Dann geht man in die Hocke. Und den Hinternteil in die andere Richtung, dass man das nicht den Menschen zeigt. Und das Klopapier wird dann verbrannt. Da muss man Feuerzeug mit nehmen. Dann haben wir das Klopapier verbrannt. Dann geht man nicht ins Wasser, weil es heiliges Wasser.“

In 16 Tagen Mongolei wurde ein riesiges Programm absolviert, das manchen nicht behinderten Touristen an die Grenzen geführt hätte. Zwei der mongolischen Nationalsportarten – Bogenschießen und Reiten – betrieb man selbst; beim Ringen wurde interessiert zugeschaut. Dazu diktiert Angela Fritzen: „Die Männer haben Brüste, weil das so aussieht.“ Beim Wodka aus Joghurt schieden sich die Geister. Katja: „Riecht nach Schafsfell, schmeckt nicht stark.“ Angela: „Ach so? Bei mir schon. Ich trinke es jetzt aus. Riechen tut das gut, nur ein bisschen komisch.“ Einig war man sich meist beim negativ bewerteten Gestank der Pferdeäpfel, mit denen, sofern getrocknet, das Feuer angemacht und unterhalten wurde. Die Mücken, große blutrünstige Brummer, waren Auslöser für seltene Anfälle von Heimweh – jedoch nur bei den Reisenden ohne Handikap.

Veronika Hammel diktiert: „Wir sind in dem Kloster Erdene Zuu. Wir waren in dem Tempel und haben gebetet. Dann haben wir diesen Rauch gerochen. Dann hat der Lama uns die Bücher vorgelesen. Dann hat einer diese Beckenschlag gemacht und der andere hat dann Musik gemacht, so ’ne Art wie Flöte. Und dann haben wir ihm Fragen gestellt. Der war freundlich und hat uns die Fragen gut beantwortet. Wie er heißt, wie alt er ist und ob er Hobbys hat. Der hat keine Hobbys. Der sitzt die ganze Zeit im Tempel und liest Bücher vor den Leuten vor.“

Von Ulan-Bator ging es in Richtung Westen bis zum kleinen Städtchen Orchon, wo gerade das Naadam-Fest gefeiert wurde. Jetzt wollte man eigentlich 200 Kilometer auf Pferden dem heiligen Orchon-Fluss folgen, bis nach Karakorum, der Stadt Dschingis Khans und diverser Ausgrabungen. Die Führerin lenkte die Gruppe jedoch wieder sanft nach Orchon zurück, denn als Abschluss des Naadam-Festes fand dort eine Art Steppendisko statt. Wenn in der Steppe schon mal der Bär steppte, dann mussten Touristen mit eigenwilligen Plänen etwas zurückstecken und sich den Interessen ihrer Reiseleiterin sowie der musikliebenden Fahrer fügen.

Nach Karakorum kamen sie auch motorisiert. Dass man sich im Kleinbus gegenübersaß und unterhalten konnte, war ein Segen. Zudem sorgte die Musikliebe der Mongolen für Kurzweil. Vor allem ein bestimmtes Liebeslied, von einem mongolischen Karel Gott gesungen, wurde bis zum völligen Verschleiß der Kassette angehört. Die Fahrer sangen tausende von Kilometern mit. Mehrmals zerlegten sie in den Haltepausen die Automotoren und reinigten alle Teile gründlich wie bei einer Waffe. Viel zu spät bekamen die Reisenden heraus, wie die optimale Getränkekühlung erreicht wurde: Flaschen mit wassergetränkten Tüchern umwickeln und in den Fahrtwind hängen!

Am Rande der Steppendisko wurden übrigens zwei einheimische Frauen gefragt, ob man in der Mongolei das Downsyndrom überhaupt kenne. Doch, erklärten die Damen, so etwas gebe es. Als sie hörten, dass man in Deutschland die Trisomie 21 früher „Mongolismus“ genannt hat, mussten sie herzhaft lachen – das hielten sie dann doch für einen ausgemachten Witz.