: Der Mensch, das Gruppentier
SOZIALBIOLOGIE Edward O. Wilson legt dar, wie die Evolution des Sozialverhaltens zur Menschwerdung beigetragen hat
VON KATHARINA GRANZIN
Man entwickelt wahrscheinlich einen besonderen Blick auf den Menschen, wenn man sich lange Zeit überwiegend mit Ameisen beschäftigt hat. Tatsächlich haben Menschen und Ameisen (sowie einige andere Insekten) etwas Grundlegendes und äußerst Seltenes gemeinsam: Sie leben in eusozialen Gruppen, also in Verbänden, zu denen mehrere Generationen gehören und deren Mitglieder zum Wohl der Gruppe altruistisches Verhalten zeigen.
Diese Gemeinsamkeit bildet die inhaltliche Klammer von E. O.Wilsons „Die soziale Eroberung der Erde“, dessen deutscher Untertitel „Eine biologische Geschichte des Menschen“ insofern leicht in die Irre führt, als Wilsons Buch tatsächlich zu fast einem Drittel von Ameisen handelt. Der Amerikaner Edward O. Wilson, 1929 geboren, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Biologen und als Begründer der Soziobiologie. Er wurde nicht nur mit den höchsten Wissenschaftspreisen ausgezeichnet, sondern bekam für sein Standardwerk über Ameisen 1991 gar den Pulitzerpreis, der normalerweise für belletristische Werke verliehen wird.
Mit „Die soziale Eroberung der Erde“ legt Wilson nun eine Art Zusammenfassung der Hauptstränge seines Lebenswerks vor, die auch insofern bemerkenswert ist, als er darin unter anderem mit einem selbst mitverursachten wissenschaftlichen Irrtum gründlich aufräumt: der Theorie der „Gesamtfitness“, die Wilson vor 40 Jahren mit ersann und die davon ausgeht, dass Eusozialität auf Verwandtenselektion basiert, altruistisches Verhalten unter Gruppenmitgliedern also mit dem Ziel der Bewahrung des eigenen Genpools verbunden ist. Inzwischen gelte dieses „alte Paradigma, das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus genießt“, jedoch als überholt.
Wilson legt ausführlich dar, dass alles ähnlich, aber anders abgelaufen sein muss. Für die Entwicklung zur Eusozialität sei nicht der Verwandtschaftsgrad von Gruppenmitgliedern ausschlaggebend, sondern es sei eine „Multilevel-Selektion“ am Werk gewesen (wie diese berechnet werden kann, spart der Autor ebenfalls nicht aus), bei der einerseits ein individueller Selektionsdruck wirksam werde, der egoistisches Verhalten begünstigt, andererseits eine Gruppenselektion, die das altruistische Verhalten fördere. Wie sich die Gruppe zusammensetzt, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Noch der heutige Mensch tendiert instinktiv dazu, sich auch mit einer Gruppe zu identifizieren, der er rein zufällig zugeteilt wurde. Als „eiserne Regel in der genetischen Sozialevolution“ könne beschrieben werden: „Egoistische Individuen sind altruistischen Individuen überlegen, während Gruppen von Altruisten Gruppen von egoistischen Individuen überlegen sind.“ Diese Regel formuliert zwei sozialevolutionäre Kräfte, die im Widerstreit miteinander liegen.
Deshalb, so Wilson, sei der Mensch einer permanenten Ambiguität unterworfen, und dieser moralisch-ethische Zwiespalt wiederum sei zugleich Grundlage und Gegenstand der Geisteswissenschaften und der Künste.
Somit könne, um Wilsons ausführliche Argumentation zusammenzufassen, die Multilevel-Selektion als evolutionäre Haupttriebkraft bei der Herausformung des Wesens des modernen Menschen und dessen Kultur angesehen werden. Dessen Instinkte aber, darunter auch der Gruppeninstinkt, sind immer noch steinzeitlich geprägt. Das bedeutet auch: „In den modernen Industrieländern sind die Netzwerke mittlerweile derart komplex, dass unser ererbter steinzeitlicher Geist davon völlig überfordert wird.“
Die Frage, ob diese veränderte Lebensumwelt selbst möglicherweise weitere evolutionäre Entwicklungen mit sich bringen kann, bleibt einstweilen offen. Daneben tippt Wilsons Buch viele Bereiche nur an, die als zentral für die soziale Evolution des Menschen gelten müssen, wie die Entwicklung der Sprache und der Religion. Aber das geht in Ordnung, denn alles muss die Biologie ja auch nicht erklären können.
■ Edward O. Wilson: „Die soziale Eroberung der Erde“. Aus d. Englischen v. E. Ranke. C. H. Beck, München 2013, 384 S., 22,95 Euro