: „Nicht der reine Opfercharakter“
Der Fall Osthoff ist zu komplex, um flächendeckende Empörung auszulösen. Solidaritätskundgebungen von Muslimen in Deutschland könnten das ändern, meint der Medienwissenschaftler Norbert Bolz
taz: Herr Bolz, die im Irak entführte italienische Journalistin Giuliana Sgrena sagte, für ihre Freilassung seien zwei Gründe zentral: die Verhandlungen der Regierung, aber auch die breite Mobilisierung der Öffentlichkeit. Können Sie sich eine solche öffentliche Mobilisierung auch in Deutschland vorstellen?
Norbert Bolz: Bevor ich dazu ja oder nein sage, will ich vorausschicken: Ich sehe da eigentlich gar nicht zwei Faktoren, sondern das ist ein und dasselbe. An wen ist der öffentliche Protest eigentlich adressiert? Nur bei ganz naivem Hinsehen könnte man denken, der Protest sei an die Geiselnehmer gerichtet. In Wahrheit ist der Protest natürlich an die eigene Regierung adressiert .
Können Sie sich einen solchen Druck auf die deutsche Regierung vorstellen?
Absolut. Aber dieser konkrete Fall ist nicht ideal für eine öffentliche Empörung. Wir haben es mit jemandem zu tun, der in vollem Bewusstsein der Gefahr dieses Risiko eingegangen ist. Da ist es nicht ganz so leicht, flächendeckende Empörung zu mobilisieren.
Ist denn die Tatsache, dass Susanne Osthoff Muslimin ist, ein möglicher Ansatzpunkt der Mobilisierung?
Das kann man genauso in die entgegengesetzte Richtung deuten – dass sie nämlich in sehr untypischer Weise verflochten ist in diese Welt. Deshalb hat sie nicht den reinen Opfercharakter. Das schwächt entscheidend die Mobilisierungschancen.
Wo könnte die Mobilisierung der Öffentlichkeit denn ansetzen?
Am ehesten an der Tatsache, dass sie Deutsche und Muslimin gleichzeitig ist. Das weckt nicht die deutsche Öffentlichkeit per se, sondern all die, die ein massives Interesse an dem Dialog zwischen den Kulturen haben. Eigentlich müssten es die Muslime in Deutschland sein, die am meisten betroffen sind.
Giuliana Sgrena hatte das „Glück“, dass sie erstens für eine Zeitung schreibt, die klar gegen den Krieg positioniert ist, und dass zweitens in ihrem Land eine gut organisierte Friedensbewegung existiert. Wer könnte in Deutschland zum Träger einer vergleichbaren Mobilisierung werden?
Ich halte den ersten Aspekt für sehr viel wichtiger: dass es sich um eine Journalistin gehandelt hat. Damit ist die Daueröffentlichkeit garantiert. Es gehört zum internationalen Berufsethos, dass einem das Schicksal einer Kollegin nicht gleichgültig sein kann. Wenn jemand nicht in den Massenmedien verankert ist, fällt die Mobilisierung viel schwerer – es sei denn, man hat die Möglichkeit, ein reines Opfer zu präsentieren, jemanden, der durch und durch unschuldig ist. Das würde allgemein die Emotionen mobilisieren. In unserem Fall aber ist die Geschichte zu komplex.
Was halten Sie von der Überlegung der Muslimverbände, zu einer Demonstration für Susanne Osthoff aufzurufen?
Das scheint mir die einzige Dimension zu sein, in der sich etwas entwickeln kann. Das ist wirklich die spannende Frage, ob es wirklich eine Neuaufstellung der europäischen Muslime gibt: ob sie wirklich bereit sind, sich vom Terror abzusetzen. Wenn es jetzt zu massiven Demonstrationen der deutschen Muslime käme, wäre das eine völlig neue Qualität.
Wäre das nicht wiederum Grund für Deutsche – die Muslimverbände haben von den Kirchen gesprochen –, sie darin massiv zu unterstützen?
Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Das würde zu einer Neudefinition der Muslime in Deutschland führen: Man würde sie öffentlich anders wahrnehmen als bisher. Das könnte ein Anlass sein zu großflächigerer Solidarität.
INTERVIEW: MICHAEL BRAUN