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Archiv-Artikel

Berliner Lektionen

„Was Eltern ihren Kindern nicht beigebracht haben“, sagt der Gutachter, „das schaffe ich auch nicht“

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Berlin-Adlershof nennt sich „Stadt der Wissenschaft, Wirtschaft und Medien“. Rechts und links der vierspurigen Rudower Chaussee forschen hier in Seitenstraßen, die nach Isaac Newton, Alexander von Humboldt und Albert Einstein benannt sind, tausende Wissenschaftler. Unter ihnen der Ehemann von Angela Merkel, ein renommierter Chemiker. Auch die Kanzlerin hat in Adlershof als Physikerin gearbeitet.

Wo die Chaussee ihren Anfang nimmt, bietet sich ein anderes Bild. Wellblechzäune. Brachflächen. Und Imbissbuden. Hier, hinter dicken Plastikplanen gegen die Kälte, gibt es Bockwurst für einen Euro, das Schultheißbier kostet 80 Cent. Viele Arbeitslose kommen her. Auch Jugendliche ohne Ausbildung und Arbeit. Sie schlagen ihre Zeit tot. Sie machen Jagd auf „Kinderschänder“, erteilen ihnen „Lektionen“.

Am Abend des 1. Mai dieses Jahres spricht die 17-jährige Jennifer M. den arbeitslosen Bäcker Heinz W. an, der hier in einer der Imbissbuden Bier trinkt. Sie erzählt dem 40-Jährigen, sie sei 14, macht ihm sexuelle Avancen. Heinz W. glaubt ihr das Alter nicht, geht aber auf ihr Angebot ein. Beim Betreten seiner Wohnung lässt sie den Türschnapper offen. Als sie ein gekünsteltes Husten von sich gibt, das vereinbarte Zeichen, stürmen ihre vier Kumpels herein. Sie schlagen mit einem Schlagring auf den Mann ein, bedrohen ihn mit einem Messer, setzen ihm ein heißes Bügeleisen auf die Brust, den Oberschenkel, den Bauch. Er soll die Geheimzahl seiner Geldkarte verraten. Jennifer M. schaut gleichgültig zu. Reglos erträgt sie den Geruch verbrannter Haut. Lacht, während andere nach dem Mann treten.

Als Jennifer M. einige „Lektionen“ später festgenommen wird, erzählt sie, dass sie achtmal vergewaltigt worden sei. Aber nicht, von wem. Und sie erzählt von der „Deutschen Schlägergang“, einer rechten Gruppe, die gegen „Kinderschänder“ vorgehe.

Seit dem 8. November muss sich die insgesamt zwölfköpfige Clique wegen gefährlicher Körperverletzung und schwerem Raub vor einer Jugendstrafkammer des Berliner Landgerichts verantworten: Drei Männer, 26, 28 und 31 Jahre, und neun Jugendliche beziehungsweise Heranwachsende, sechs Jungs zwischen 18 und 20, drei 17-jährige Mädchen. Die Staatsanwaltschaft geht bei allen von einer rechten politischen Gesinnung aus. Viele von ihnen sind schon straffällig geworden: wegen Beleidigung, räuberischer Erpressung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, falscher Verdächtigungen, Nötigung, Zeigens verfassungsfeindlicher Kennzeichen. Geldstrafen, Arbeitsstunden, Antigewaltseminare und Jugendarreste – weder Strafen noch Hilfsangebote haben sie abgehalten, weiterzumachen. Sieben der Angeklagten, unter ihnen Jennifer M., sind seit ihrer Festnahme im Mai in Untersuchungshaft. Im Gerichtssaal sitzen sie hinter Panzerglas.

Am 11. Mai dann, zehn Tage nach dem Überfall auf den arbeitslosen Bäcker, ist Marko L. dran. Die 17-jährige Cindy Sch. trifft sich mit Jennifer M., der gleichaltrigen Sabrina K. und sieben Kumpels, unter ihnen ihr 20-jähriger Bruder Steven. Er soll ihnen zeigen, wo Marko L. wohnt. Als sie an der Haltestelle vor dem Imbiss auf den Bus warten, verprügeln sie zwei Punks, einfach so. Mit Schlagstock und Schlagring gehen sie auf die beiden los, treten ihnen mit Stahlkappenschuhen ins Gesicht, reißen eine Sicherheitsnadel aus dem Ohr, einen Antinazi-Aufnäher von der Jacke. Die drei Mädchen schauen zu.

Eine halbe Stunde später schlagen ihre Kumpels Marko L. in seiner Wohnung mit einem Schlagring und einem Teleskopschlagstock. Sie stopfen dem 30-Jährigen einen Schal in den Mund, sie ziehen ihm einen Kopfkissenbezug über den Kopf, sie übergießen ihn mit hochprozentigem Alkohol, drohen, ihn anzuzünden, sie klauen, was sie finden.

Cindy Sch. hatte ihren Kumpels erzählt, dass Marko L. sie mehrmals vergewaltigt habe. Nach ihrer Festnahme erstattet sie Anzeige wegen Vergewaltigung gegen ihn. Ein Ermittlungsverfahren wird eingeleitet. Marko L. ist ein entfernter Verwandter. Das Jugendamt stellt Cindy Sch. eine Erziehungshilfe zur Seite.

Wenn unter den Angeklagten Jugendliche oder Heranwachsende sind, kann die Öffentlichkeit von einem Prozess ausgeschlossen werden. „Psychologische Gründe legen es nahe, eine Atmosphäre zu schaffen, die eine freie Aussprache ermöglicht“, sagt der Vorsitzende Richter am ersten Verhandlungstag. Öffentlich ist nur das Verlesen der Anklageschrift. Einzige Regung unter den Angeklagten: Einer grinst, als der Staatsanwalt vorliest, wie sie einem Punk den Döner aus der Hand getreten haben.

Bevor die Prozessbeteiligten unter sich bleiben, machen die Angeklagten Angaben zur Person. Die sind genauso trist und deprimierend wie die Gegend an der Rudower Chaussee, wo sie oft rumhängen: „Keine Ausbildung, keine Arbeit“, sagt Jennifer M. „Bedarfsgemeinschaft mit meiner Mutter, Hartz IV“, sagt Cindy Sch. „Keine Arbeit, keine Ausbildung, Jugendhilfe“, sagt Sabrina K., die schwanger ist von Sebastian W., 19 Jahre, „kein Beruf, keine Ausbildung“. Bei den erwachsenen Angeklagten sieht es nicht anders aus.

Fast alle sind sie in Alt-Glienicke aufgewachsen, einem Neubaugebiet in Treptow-Köpenick. Entlang der Chaussee, die zum Flughafen Schönefeld führt, stehen graue Blöcke, acht, zehn, zwölf Stockwerke hoch. In Parkanlagen warnen Verbotsschilder: „Kein öffentlicher Spielplatz“. Ob Blumen oder Kleidung, vieles wird in heruntergekommenen Betonbauten oder Containern verkauft. Das Bürgerhaus wirbt mit Auftritten von Bands und Kabarettisten aus der untergegangenen DDR. Nur ein Verbrauchermarkt lockt: „Herzlich willkommen“.

Die Angeklagten schalten und walten in ihrem Viertel, wie es ihnen passt. Einen Tag nach der „Lektion“ für Marko L. führt Jennifer M. zwei Kumpels zur Wohnung des 57-jährigen Jan E. Der soll die Freundin des einen vergewaltigt haben. Während Jennifer M. mit Sabrina K. Schmiere steht, geben sich die anderen als Polizisten aus und dringen in die Wohnung ihres Opfers ein. Mit einem Teleskopstock schlagen sie ihm so stark auf den Rücken, dass der Stock zerbricht. Bevor sie die Wohnung verlassen, klauen sie 20 Euro und einen Einkaufsausweis für ein Warenhaus.

Für Klaus-Dieter Paul-Ellerbrock gilt der Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verfahren nicht. Er arbeitet bei der Jugendgerichtshilfe Treptow-Köpenick und soll dem Gericht eine Empfehlung geben, ob die bis zu 18-jährigen Angeklagten strafmündig sind und ob bei den 18- bis 21-Jährigen Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewendet werden soll. Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht beträgt zehn, im Erwachsenenstrafrecht 15 Jahre. Entscheidend sind Entwicklungsgrad und Reife.

Das Büro des Diplompädagogen liegt ausgerechnet wenige Meter hinter den Imbissbuden an der Rudower Chaussee. Der 55-Jährige hat jeden Monat im Schnitt 30 neue „Eingänge“ zu verzeichnen. Jugendliche mit „Reifedefiziten“, „schädlichen Neigungen“, „sozialer Verwahrlosung“. Besonders auffällig ist die erhebliche Zunahme von Körperverletzungen. Täglich hat er mit gleichgültigen oder kaputten Elternhäusern zu tun, mit Arbeitslosigkeit, Alkoholismus oder sexuellem Missbrauch, der nicht aufgearbeitet wird. „Oft habe ich den Eindruck, nicht die Kinder, sondern ihre Eltern sollten vor Gericht stehen.“

Paul-Ellerbrock ist nicht der Typ Sozialarbeiter, der jedes Fehlverhalten mit einer verpfuschten Kindheit entschuldigt. Als er nach seinem Pädagogikstudium in die offene Jugendarbeit ging, hatte er „viel Anfangsidealismus“. Nach zehn Jahren offener Jugendarbeit und zwölf Jahren im öffentlichen Dienst ist davon nicht mehr viel übrig. „Was Eltern in 15 Jahren nicht geschafft haben, ihren Kindern beizubringen, das kann ich nicht in zwei Jahren schaffen“, sagt er. Mittlerweile befürwortet er bei hoffnungslosen Fällen geschlossene Heime. „Da können die Jugendlichen nicht entweichen und müssen sich an Regeln halten.“ Bundesweit gibt es 185 derartige Plätze, in Berlin keinen einzigen.

Zwei der Angeklagten wurden bereits verurteilt, zu Jugendstrafen: Steven Sch., der Einzige, der sich in einer Ausbildung befindet, muss wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung zwanzig Stunden Freizeitarbeit leisten, für ein Jahr wird ihm ein Betreuer zur Seite gestellt. Und die schwangere Sabrina K. muss wegen unterlassener Hilfeleistung und Hehlerei 40 Stunden Freizeitarbeit leisten und einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren. Die anderen werden diesmal wohl kaum mit dem Jugendstrafrecht davonkommen.