: „Journalismus kann Dinge verändern!“
SEYMOUR HERSH Er hat Kriegsverbrechen in Vietnam und Folterskandale im Irak aufgedeckt. Jetzt kritisiert er Obamas Afghanistan-Strategie. Zu Besuch auf den wichtigsten 15 Quadratmetern des investigativen Journalismus in den USA
AUS WASHINGTON MICHAEL MAREK
Connecticut Avenue, Washington D. C.: Hier, im Regierungsviertel der US-amerikanischen Hauptstadt, hat der groß gewachsene Journalist sein winziges Büro: Seymour Hersh. Einen „globalen Polizeireporter“ nannte ihn die New York Times, für die er seit Jahrzehnten schreibt. Seine Kritiker gehen weniger freundlich mit ihm um und titulieren ihn als Nestbeschmutzer. „Lügner“ nannte ihn schlicht und einfach Ex-Präsident George W. Bush. „Ich liebe mein Land“, sagt der 72-Jährige, „und hasse Lügen. Viele Amerikaner sagen: Die da oben lügen! Ich kann das nicht akzeptieren. Es muss die gleichen moralischen Standards im Großen wie im Kleinen geben.“
Hershs Recherchen haben Gewicht: 2004 sorgten seine Enthüllungen für Empörung, als er die Folter im US-Militärgefängnis von Abu Ghraib aufdeckte („Das war keine Ausnahme, sondern die traurige Realität des Krieges“). Er enttarnte gefälschte Dokumente, die die Existenz von Saddams Massenvernichtungswaffen belegen sollten – Geschichten, von denen alle Reporter ihr Leben lang träumen.
An diesem Morgen sitzt er wieder am Schreibtisch. Dichtgedrängt liegen hier auf 15 Quadratmeter Bürofläche die Papierberge, das Ganze gleicht eher einer Abstellkammer denn einem Recherchezentrum. In diesem Loch sollen Geschichten entstanden sein, die US-Präsidenten und Regierungen ins Stolpern brachten? Die Bürowände haben seit Jahren keine frische Farbe mehr gesehen. Hershs Arbeitszimmer besteht aus einem Tischchen für Rechner, Fax, Telefon und einem altersschwachen Schreibtisch. Darauf stapelt sich ein Berg aus Notizblöcken, Büchern, Zeitungsartikeln und Manuskriptseiten. Unübersehbar ist Hershs Vorliebe für gelbes, liniertes Papier. Ständig klingelt das Telefon. Anrufer, die ihre Nummer nicht zu erkennen geben, werden automatisch abgewiesen. Von Hersh persönlich, eine Sekretärin gibt es nicht. Seit 1992 arbeitet er von hier aus exklusiv für die New York Times. Er könnte von der Redaktion ein modern eingerichtetes Büro bekommen, eben erst haben sie ihm wieder eins angeboten – aber dann, sagt Hersh, wäre es mit seiner Unabhängigkeit vorbei.
Mit seinen 72 Jahren bleibt er ein Getriebener, rastlos, der immer noch auf seinem Drehstuhl hin und her zappelt und die Füße demonstrativ auf den Schreibtisch legt. Zum Dresscode des freundlichen Riesen mit grauem, schütterem Haar gehören dunkelblauer Pullover, abgewetzte Jeans und Turnschuhe.
Mit Sorge verfolgt er die zunehmende Kommerzialisierung der Medien in den Vereinigten Staaten. Freier, unabhängiger Journalismus werde Schritt für Schritt an den Rand gedrängt. Aber gilt das nicht auch für die europäische Presselandschaft? „Ja, sie nähern sich beide leider immer mehr an. Der investigative Journalismus ist auf beiden Seiten des Atlantiks auf dem Rückzug. Diese Art der Berichterstattung ist langwierig und damit auch teuer.“ Aber lohnend, so Hersh: „Journalismus kann Dinge verändern. Ich bin da sehr optimistisch, vor allem, wenn ich mir die wachsende Bedeutung der Medien in der Dritten Welt anschaue. Da gibt es ermutigende Entwicklungen.“
An den Wänden hängen die zahllosen Auszeichnungen, die er in seiner 40-jährigen Journalistenlaufbahn erhalten hat. Darunter der Pulitzer Prize für seine Recherchen über das Massaker in My Lai. Am 16. März 1968 umzingeln US-Soldaten das vietnamesische Dorf und ermorden 504 Einwohner. Dem US-Militär gelingt es zunächst, das Massaker zu verheimlichen – bis Hersh anderthalb Jahre später zu recherchieren beginnt. Da ist er gerade 32.
Seitdem bringt er Licht auf die Schattenseiten der US-amerikanischen Politik: Watergate, Pinochet, Nicaragua, Golfkrieg, Afghanistan und Iran. Seine letzte Recherche: Hersh hat nachgewiesen, dass der Krieg zwischen den USA und dem Iran längst begonnen hat. Unter strikter Geheimhaltung waren US-Spezialkommandos und CIA-Agenten auf dem Gebiet des Iran unterwegs. Der erste Schritt für einen größeren Schlag gegen das Regime in Teheran.
Zwar könnte sich Hersh längst zur Ruhe setzen oder Vorlesungen über investigativen Journalismus halten. Stattdessen arbeitet er weiter: „Die Mächtigen sollen wissen, dass sie kontrolliert werden.“ Dafür hat er sich über Jahrzehnte einen Stamm von Informanten aufgebaut: im Regierungsapparat, den Verwaltungen, den Geheimdiensten. Während Kollegen zu den offiziellen Terminen gehen, trifft sich Hersh mit Insidern. Ein großer Teil seiner Arbeit spielt sich außerhalb der regulären Bürostunden oder an Wochenenden ab. Oft weit weg von Washington, „auf neutralem Boden“, sagt der Einzelgänger, der allen misstraut. Die meisten seiner Quellen kommen aus der mittleren Führungsebene. Unter US-Journalisten kursiert nicht von ungefähr das Sprichwort: „The higher you go, the less you know.“ Die Motive von Hershs Informaten sind dabei äußerst verschieden; ihre politischen Anschauungen können völlig von seinen eigenen abweichen. Oft sind solche Begegnungen unterkühlt, zuweilen in der Tonlage sogar offen feindselig. Nur die Faktenprüfer der New York Times kennen Hershs Quellen und prüfen nochmal unabhängig von seinen Recherchen. „Bei meiner Arbeit versuche ich stets sicherzugehen, dass nichts, was ich veröffentlichen möchte, jemanden beim Militär oder Nachrichtendiensten gefährden könnte.“
Mit den Mächtigen hat sich der 1932 als Sohn jüdischer Immigranten geborene Hersh nie arrangiert. Nie wäre er als „embedded journalist“ im Kampfpanzer bei den US- oder sonst welchen Truppen mitgereist. Hersh ist auch keiner, der am Katzentisch der Politiker und Militärs sitzt. Das galt auch, aber vor allem für die Zeit nach dem 11. September 2001, als Hersh Artikel über Geheimdienstversagen, Nahost-Politik, Terrorismus und Abu Ghraib schrieb. Statt das Gefängnis, in dem es schon unter Saddam Folter und Exekutionen gab, zu zerstören, „haben wir es wieder aufgebaut“, lautet sein vernichtendes Urteil: „Bush war der schlechteste Präsident in der US-Geschichte, seine Politik war völlig irrational.“
Enttäuscht zeigt sich Hersh aber auch über Barack Obama, der das Thema Folterungen zwar offen angesprochen hat, aber keine juristischen Schritte gegen die Verantwortlichen in der damaligen Regierung unternehmen will. Hersh: „Das ist unbedingt notwendig!“ Und er hält es für einen Fehler Obamas, noch mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken. „Wissen Sie, warum? Weil überall, wo amerikanische Soldaten auftauchen, die Kollateralschäden so groß sind, dass die Leute mehr Angst vor uns haben als vor den Taliban!“
Hersh kritisiert, dass der neue US-Präsident den Krieg nach Pakistan ausgeweitet hat: „Das wird dieses instabile Land nur weiter destabilisieren. Obama muss mit den Taliban verhandeln!“ Anders als im letzten Jahr hält er einen Militärschlag gegen den Iran derzeit aber für extrem unwahrscheinlich. „Obama ist nicht Bush oder Cheney.“
Für manchen mag irritierend sein, dass Hersh dabei ein Freund der US-Streitkräfte ist und die Arbeit der Behörden und Geheimdienste seines Landes durchaus zu würdigen weiß. Doch er kennt die Ambivalenz der Realität: Eindringlich erinnert Hersh daran, dass die Soldaten und Polizisten von Politikern und Militärs unverantwortlicherweise in moralisch verheerende Situationen gebracht wurden – in My Lai wie in Abu Ghraib: „Die Kids, die diese Dinge tun, sind genauso Opfer wie die, denen sie sie antun. Man hat sie zu Tätern gemacht. Wenn man mit diesen Menschen spricht, die die Fotos von Abu Ghraib aufgenommen haben, sind es nette, liebenswürdige Männer und Frauen vom Lande.“
Hersh wird also weiter erzählen. Von den zerstörten Persönlichkeiten, von traumatisierten Soldaten, die keine ausreichende psychotherapeutische Begleitung von der Armee bekommen: „Da kommt eine Welle von kaputten Veteranen, von damaged goods, zurück, auf hier niemand vorbereitet ist.“