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Archiv-Artikel

„Die Liebe, das ist dein Zuhause“

VERLUST Sabrina Witte wuchs zwischen Fahrgeschäften auf. Ihre Eltern betrieben den Berliner Spreepark – und scheiterten. Ein Gespräch über alte Familienträume

Sabrina Witte

■ Die Frau: Sabrina Witte, 28, führt jeden Sonntag durch den Berliner Spreepark und betreibt dort das Café. Ihre Eltern, Pia und Norbert Witte, bauten den ehemaligen DDR-Vergnügungspark nach der Wende wieder auf.

■ Die Familie: 2001 gab es ein Insolvenzverfahren, die siebenköpfige Familie zog nach Peru. Weil Norbert Witte mit seinem Sohn Marcel Kokain schmuggelte, saß er in Deutschland im Gefängnis. Marcel verbüßt eine Haftstrafe in Lima.

■ Der Park: Der Rummel ist seit zwölf Jahren geschlossen. Er verfällt, kann aber besichtigt werden.

GESPRÄCH ANDREAS KIENER FOTOS DAVID OLIVEIRA

Wenn Melancholie die Erinnerung an vergangenes Glück ist, dann ist der Spreepark die Verkörperung davon. Im Jahr 2001 wurde der Vergnügungspark in Berlin geschlossen, übrig geblieben ist ein wildromantischer Ort. Ruinen verrosteter Fahrgeschäfte. Kulisse für Filme und Musikvideos. Ein kalter, windiger Nachmittag im Winter. Sabrina Witte, Kind der Schaustellerfamilie, die den Spreepark betrieb, ist zur Wildwasserbahn gegangen, nachdem das Eisentor aufgeschlossen wurde. Nur bei Festivals und den wöchentlichen Führungen, die sie abhält, darf man rein. Sonst sorgt eine Sicherheitsfirma dafür, dass niemand unerlaubt das Gelände betritt.

sonntaz: Frau Witte, finden Sie auch, dass der Spreepark ein romantischer Ort ist?

Sabrina Witte: Ja, er ist mein Zuhause. Ich kenne jeden Stein, jedes Loch, jeden Ast. Man könnte mich durchjagen, und ich würde dort ankommen, wo ich möchte. Der Park hat mir die schönste Kindheit geboten. Seit er nicht mehr ist, fühle ich mich nirgends mehr richtig zu Hause. Dieses Gefühl kommt auch nicht wieder.

Ihre Eltern, Norbert und Pia Witte, haben den ehemaligen DDR-Rummel Plänterwald nach der Wende als Spreepark eröffnet. Ein Lebenstraum, der 2001 zerbrach. Es gab ein Insolvenzverfahren, Ihre Familie setzte sich nach Peru ab. Macht Sie das traurig, wenn Sie jetzt durch den Park gehen?

Es gibt Tage, da gehe ich sehr gerne hier durch, mit einem Dauergrinsen. An jeder Ecke kommen die Erinnerungen hoch und die schönen Erlebnisse. Dann hast du wieder Tage, da geht es dir richtig schlecht, weil es unheimlich weh tut, wenn du siehst, wie’s zerfällt, und dir bewusst wird, wie wir gescheitert sind.

Wie war das, hier als Kind zu leben?

Freizeitpark, Kirmes, damit schaffst du den Menschen ja eine Spaßillusion. Du weißt, wie schwierig es ist, alles fertigzustellen, der Aufwand, der Schweiß. Aber ich habe das geliebt, wenn meine Eltern angefangen haben aufzubauen. Du bist nachts aufgestanden und die Eltern haben gemacht und getan und dann hat sich das langsam entwickelt: Dieses Bild, das du im Kopf hattest, fing an zu leben. Das ist einzigartig, wunderschön. Dann hast du natürlich andere Möglichkeiten als andere Kinder. Du kannst den ganzen Tag Karussell fahren, so viel du willst.

Und, sind Sie?

Na klar, als Tochter! Du kennst jeden Mitarbeiter mit Namen. Die wissen schon: Die kleine Witte kommt, alles klar.

Haben Sie auch andere Kinder mitgenommen?

Meine Freunde wollten grundsätzlich zu mir. Wenn ich gefragt habe: Wollen wir mal zu dir? Dann kam: Ach, nee, lass zu dir! Für meine Mutter war es toll. Sie wusste, wir sind in guter Obhut, zu Hause, auch wenn es etwas größer ist. Ich bin einfach anders, großzügiger, groß geworden.

Im Dokumentarfilm „Achterbahn“ sieht man, wie Sie die Details eines Fahrgeschäfts erklären. Haben Sie selbst eines betrieben?

Dafür war ich noch zu klein. Aber ich durfte einen Sommer lang einen Waffelstand betreiben, da war ich enorm stolz. Natürlich habe ich für meine Eltern mal an der Kasse gesessen. Es hieß dann, wenn ich volljährig bin, darf ich was Eigenes betreiben. Aber dazu ist es ja nicht mehr gekommen. Mein Traum war eigentlich, Marketing für den Park zu betreiben.

Ihre Ideen vom Erwachsenwerden waren also immer mit dem Park verknüpft.

Eigentlich wollte ich Anwältin werden. Am liebsten für den Park. Es war also alles damit verbunden. Heute ist der Park über zehn Jahre weg und ich bin trotzdem geblieben. Ich bin selbstständig, Gastronomin, ich mache hier Veranstaltungen.

Haben Sie nie gedacht, dass eine Kirmes eine zu große Herausforderung für eine Familie ist?

Wir haben 2001 geschlossen, da bin ich gerade siebzehn geworden, war noch nicht mal erwachsen. Keiner von uns wollte wahrhaben, was da gerade passiert. Das kann man nicht mit Worten beschreiben, was in dir vorgeht, wenn du weißt, dein Zuhause, dein Lebensprojekt bricht weg. Das war für meine Eltern noch schlimmer als für uns Kinder.

In der Presse hieß es damals, die Familie sei vor dem Insolvenzverfahren nach Peru geflohen. Mit im Gepäck: Container voller Fahrgeschäfte. Das Südamerikaabenteuer ging schief, die Fahrgeschäfte wurden monatelang nicht vom Zoll freigegeben, das feuchtwarme Klima und die lange Lagerung im demontierten Zustand ruinierten die Geräte. Als sie nach und nach aus dem Zoll kamen, waren sie so defekt, dass ein Großteil der Einnahmen für Reparaturen aufgewendet werden musste. Pia Witte ging mit den vier Töchtern zurück nach Deutschland, Norbert Witte und Sohn Marcel versuchten weiterhin erfolglos, in Peru Geld zu verdienen.

Sind Sie jetzt erwachsen?

Ich bin im Geschäftsleben, wenn’s um Verträge geht, um Verhandlungen. Klar, da bin ich erwachsen, da weiß ich, was ich will. Aber im Herzen bin ich Kind, da möchte ich toben und spielen. Ich glaube, das ist so eine Ader, die man nicht verliert.

Sabrina Witte zeigt auf einen Hügel, den höchsten Punkt des Parks.

Jetzt kommen wir zu meinem Lieblingsplatz. Um 19 Uhr war Feierabend, darauf habe ich gewartet. Ich hatte keine Barbies, aber ein kleines Motorrad. Mit dem bin ich dann über die Brücken, hier so hoch den Berg, und habe Stunden gesessen und mir alles angeguckt.

Treiben Sie die schönen Erinnerungen an?

Das sind nicht nur schöne Erinnerungen. Da ist die Liebe und da ist der Hass. Die Liebe, das ist dein Zuhause. Du weißt, was deine Familie investiert und gemacht hat. Du kennst die langen Gespräche, wenn deine Eltern geweint haben und nicht mehr weiterwussten. Und der Hass, der kommt daher, dass meiner Familie so viel Unrecht angetan wurde. Sodass du sagst: Ich möchte es besser machen, ich möchte etwas erreichen, um uns alle wieder reinzuwaschen, damit die Leute sehen: Hey, wir sind nicht die kriminellen Bösen, die ihr aus uns macht. Wir waren eine kleine Familie, die es versucht hat und gescheitert ist.

Um sich Kapital zu beschaffen, versteckte Norbert Witte kiloweise Kokain in der Kirmesattraktion „Fliegender Teppich“. So sollten die Drogen nach Deutschland geschmuggelt werden. Er selbst reiste vor, sein Sohn blieb zurück. Sie flogen auf. Norbert Witte erhielt in Deutschland eine verhältnismäßig milde Haftstrafe, er ist wieder frei. Marcel wurde in Peru zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn er entlassen wird, wird er über vierzig Jahre alt sein.

Reden Sie mit Ihren Eltern über die Vergangenheit?

Es ist sehr schwierig, mit ihnen darüber zu reden, weil sie dann meistens den Tränen nah sind. Sie sind zwar heute geschieden, haben auch kein gutes Verhältnis mehr zueinander, allein wegen der Sache mit meinem Bruder. Aber was den Park betrifft, sind sie sich einig. Als wir noch kein Geld hatten, ist meine Mutter mit rosa Handschuhen dagestanden und hat die Toiletten im Park geschrubbt. Und mein Vater stand mit der Klobürste daneben und hat mitgemacht. Wenn du dich darüber mit ihnen unterhältst, werden sie wehmütig und sagen einfach: Mann, wir sind gescheitert, alles scheiße. Ich vermeide das Thema, weil es Wunden sind, die immer wieder aufgerissen werden, immer wieder und immer wieder.

Das bringt nichts.

Nein, wir können’s nie wieder ändern.

Vom Hügel aus hat man eine gute Sicht auf das Riesenrad, das der Wind in einiger Entfernung dreht. Es knarzt und ächzt, erinnert an einen sterbenden Patienten an einer Herz-Lungen-Maschine. Atmung, Herzschlag, Drehbewegung.

Unheimlich, das Geräusch.

Nein, das ist schön! Ich komme aus eine Schaustellerfamilie, ich will es immer laut haben. Ich will hören, dass was los ist.

Haben Sie mal in einem Wohnwagen gewohnt?

Klar, ich bin im Wohnwagen groß geworden. Aber richtig realisiert habe ich das erst, als ich älter wurde. Ganz oft ist es so: Schausteller, die ein Leben lang im Wohnwagen unterwegs sind, fühlen sich eingesperrt in einer Wohnung oder einem Haus. Die müssen raus. Wir sind Weltenbummler, wir sind keine ruhigen Gesellen, die du hinter einen Schreibtisch verdonnern kannst und da leben wir dann.

Haben Sie je darüber nachgedacht, Berlin zu verlassen?

Ja. Ich habe Berlin bis jetzt wegen dem Gelände noch nicht verlassen. Eigentlich müsste ich so erwachsen sein, zu sagen: Sabrina, es ist nicht mehr da. Aber ich möchte das so lange genießen, wie ich kann. Ich möchte nicht loslassen. Sollte der Tag kommen, an dem ich loslassen kann, werde ich Berlin verlassen. Mich hält dann nichts da. Der Mann ist weg, der Park weg, was will ich hier? Arbeiten kannst du überall auf der Welt.

Sie haben von Ihren Eltern erzählt, aber noch nicht von Ihrem Bruder. Er sitzt in Lima im Gefängnis. Haben Sie zu ihm Kontakt?

Ich war jetzt erst drüben bei ihm. Dem geht’s total beschissen. Er ist seelisch, moralisch, körperlich total am Ende.

„Ich kenne jeden Stein, jeden Ast. Man könnte mich blind durch den Park jagen, und ich würde dort ankommen, wo ich möchte“

Wie lange muss er noch dort bleiben?

Er hatte jetzt zehnjähriges Jubiläum und hat noch zehn Jahre vor sich. Wir streben eine Auslieferung an. Die stockt schon seit zwei Jahren.

Sie wollen Ihn nach Deutschland ausliefern, damit er unter besseren Bedingungen in Haft ist?

Genau. Er wäre hier allerdings ein freier Mann. Es weiß ja jeder, dass er nicht derjenige war, der das zu verantworten hatte. Er war 22 Jahre alt, er ist da in was reingerutscht, was damals mein Vater angeleiert hat, und wurde jetzt unschuldig verknackt. Sitzt seit zehn Jahren. Seine ganzen Zwanziger. Mein Bruder ist jetzt 32 geworden, er sieht sein Kind nicht aufwachsen. Es ist für uns zusätzlich eine richtig böse, harte Situation. Du kannst das Leben nicht so genießen, als wenn’s nicht so wäre. Ich glaube, wir fangen erst wieder richtig an, zu leben, wenn er irgendwann zu Hause ist. Dann können wir vielleicht mit dem Kapitel Spreepark abschließen. Das gehört ja zueinander.

Schwer vorstellbar, wie das ist, wenn der Bruder so lange Zeit in einem Gefängnis in Südamerika sitzt.

Das ist die Hölle.

Trotzdem scheint Ihre Familie zusammenzuhalten. Andere Familien könnte eine solche Geschichte auseinandertreiben.

Die Ehe meiner Eltern ist daran zerbrochen. Aber die Familie hat es noch enger zusammengeschweißt. Als wir in Konkurs gegangen sind, war kaum noch jemand da. Du hast nichts mehr vorzuweisen gehabt, also waren auch alle Leute weg. Da wird dir bewusst, wer die Menschen an deiner Seite sind. Und was den Spreepark angeht: Ich glaube, so richtig vergessen und abschließen wirst du das nie.

Möchten Sie Ihr Leben nicht realistischeren Projekten widmen? Dingen, die man auch erreichen kann?

Schauen Sie, als der Spreepark damals ausgeschrieben wurde, hatten meine Eltern diese Idee. Damals haben alle gesagt: Ihr baut einen Freizeitpark? Wie wollt ihr das machen? Das ist nicht möglich, das könnt ihr nicht schaffen. Und? Er ist zwar gescheitert, aber er ist trotzdem da, wir haben ihn trotzdem aufgebaut. Dieser blöde Spruch, den immer alle sagen, lebe deinen Traum und träume nicht dein Leben, der hat wirklich was für sich. Ich bin sowieso ein Visionär und ein Fantast.

Der Wind ist unnachgiebig, auf dem Hügel ist man ihm ausgeliefert.

Junge, ist das kalt hier. Lieber Heiland! Vielleicht sollten wir uns da hinten irgendwo unterstellen.

Sind Sie sicher, dass Sie Ihren Traum leben und nicht Ihr Leben träumen?

Ja. Es ist schwierig, aber ich bin mir sicher, weil ich alles, was ich bis jetzt wollte, geschafft habe. Langsam, aber Schritt für Schritt komme ich dem, wo ich hinwill, immer näher.

Andreas Kiener, 31, ist freier Journalist in Wien. Sein verlorenes Kindheitsparadies ist ein Bauernhof in Oberösterreich

David Oliveira, 31, ist freier Fotograf. Er kommt aus Portugal und lebt in Berlin. Als Kind ist er gern Geisterbahn gefahren