: Endlich versagen die Sinne
Wie die alten Hasen arbeitet die Band Tokio Hotel am Sauerstoffmangel ihrer Fans. Mädchen kippten im Fünfminutentakt um beim Konzert in der Columbiahalle – da war Rock noch echtes Risiko
VON IMKE STAATS
Verkehrschaos in Neukölln, kurz vor 18 Uhr. Nein, kein Feierabendverkehr: Massen von Teenager-Mädchen samt elterlichem Bring- und Abholdienst blockieren auf dem Weg zu Deutschlands sensationell jungem Rock-Phänomen Tokio Hotel in der Columbiahalle den Columbiadamm. Die Polizei greift strukturierend ein. Der Trubel um die Schnellaufsteigerband aus Magdeburg, die sich im August mit ihrer ersten Hit-Single „Durch den Monsun“ hochbeamte, gleicht der Beatlemania. In sechs Monaten ernteten Tokio Hotel eine Gold-Schallplatte, den Bambi und den Viva-Cometen als beste Newcomer – gestern kam dann noch Platin dazu für „Schrei!“, ihr Debütalbum.
Tokio Hotel rocken derzeit restlos den deutschsprachigen Raum, zwei Zwillingsbrüder im zarten Alter von 16, ein 17-jähriger Schlagzeuger und ein 18-jähriger Bassist. Auf acht ist der Konzertbeginn angesetzt – kein Grund für die kindlichen Fans, bis dahin ruhig zu warten: In der Halle wird konstant gekreischt, was das Zeug hält; zum Teil stechen „Tok-jo-ho-tell“ und die Namen der Bandmitglieder heraus aus dem hellen Dauerton, den tausende von Mädchenkehlen (die Anzahl der Jungs ist verschwindend klein) solidarisch in Richtung Bühne gellen.
Auf der Bühne passiert lange weiter nichts, als dass in Endlosschleife die Werbung zur just erschienenen DVD über eine Leinwand läuft, auf der die Buben beim Kleideraussuchen, Kondomklauen und in bedeutungsvoll-symbolischen Szenen zu sehen sind: zum Beispiel der kajal-äugige Sänger Bill vor einer schwarzen, ausgeblasenen Kerze. Der Anblick der definitiv hübschen Jungs, Sauerstoffmangel und diese ganze Aufregung überhaupt bringt manches sexy gestylte Mädchen an den Rand des Fassbaren: Vor der Bühne wird im Fünfminutentakt umgefallen, per Handzeichen dem Sanitäter der Schwächeanfall angezeigt und ratz, fatz rausgetragen – auch ein Weg, Backstage zu gelangen. Die Lazarette neben der Bühne sind überfüllte Durchgangsstationen; die Retter haben an diesem Abend so viele ohnmächtige Jungfrauen im Arm, dass sie damit später protzen können. Leider müssen alle nach dem Aufpäppeln wieder in die johlende Menge zurück, in der auch einige Mamas (begeistert), jüngere Geschwister (in XXS-Fan-Shirts) und Papas (am Biertresen) warten.
Gegen acht Uhr ist die Halle randvoll, an die 3.500 sehr zukünftige Rentenbeitragszahlerinnen drängen sich, langsam wird’s Zeit: Junge Fräulein drohen schon über die Brüstung des Ranges zu quellen, und die Abholdienste sind für 21 Uhr bestellt. Endlich! Der Jubelpegel steigt um weitere Dezibel, als Bill, Tom, Gustav und Georg auf die Bühne springen, es werden Fotohandys und Pappschilder mit aufgemalten Herzen rausgeholt: „Bill und Tom, ihr seid zu geil!“
Der erste Song heißt „Jung und nicht mehr jung“, und genau das trifft zu. Die Kleinen bewegen sich routiniert wie alte Hasen, vom unterhalb des Knies gespielten Bass bis zum Zeigearm beherrschen sie das Posing-Abc des Rock spielend. Kein Wunder, denn angefangen haben alle schon kurz nach der Geburt: Drummer Gustav hat angeblich schon mit 5 getrommelt, Bill sang und textete mit 9, Zwilling Tom lernte Gitarre mit 10. Playback ist also nicht nötig: Tokio Hotel machen vieles richtig im Sinne von vertraut und bewährt – und erstaunlicherweise wirken sie dabei echt. Coolseinwollen gehört dazu. Und sie machen mit deutschen Texten etwas anderes als Helden-Juli-Silbermond-Pop oder investigative Entwaffnung durch Ehrlichkeit im Trashmantel à la Tocotronic, nämlich, Jetzt Neu: Rock! Das war lange nicht.
Die Playlist umfasst 15 Stücke, bei „Schrei“ klingt das Publikum wie ein Kinderchor, es hagelt pausenlos Stofftiere und sogar ein aufgeblasenes Kondom, und bei „Durch den Monsun“ schnappt sich Bill ein Mädchen zum Mitsingen aus dem Publikum. Die 14-jährige Mandy mit dem Fotohandy hat, im Gegensatz zu vielen anderen, eine starke Konstitution und verharrt nach dem Mini-Auftritt unerschrocken neben der Bühne, knipsend, während weiterhin Opfer an ihr vorbeigetragen werden. Als Zugabe gibt’s noch mal „Schrei“. Bill mit seiner schwarzen Nena-Frisur dankt Berlin, Toms Hose rutscht tiefer, Georg wirft sich rückwärts in Pose, und Gustav macht zum Schluss noch einen Paradegang an den Bühnenrand – mit nacktem Oberkörper. Mandy pfeift laut Tom hinterher, aber erfolglos. Was soll’s, morgen ist Schule, und schulfrei gibt’s nur für Rockstars.