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Archiv-Artikel

Satt für lau

SELBSTVERSUCH Krumme Karotten und Brot vom Vortag: Täglich werden in Deutschland mehr als 30 Tonnen Nahrung weggeworfen. Was könnte gerettet werden?

„Die Ersten kommen schon am Nachmittag“, erzählt Mehmet Tanis. Er betreibt seit 15 Jahren einen Stand auf dem Wochenmarkt am Maybachufer in Berlin-Neukölln. „Früher haben sich die Leute geschämt, nach Lebensmitteln zu fragen“, sagt er. „Heute reichen unsere Reste gar nicht aus.“ Es ist 18.30 Uhr, die Verkäufer haben schon fast alles weggepackt, überall stehen leere Kartons und Kisten. Doch wer um diese Zeit noch kostenlose Lebensmittel abstauben will, ist bereits zu spät dran. Zwei erfahrene Restesammler haben gerade alle Marktstände abgeklappert und fahren ihre Beute auf einem überladenen Holzkarren davon.

Auch Susanne hatte heute Glück: Ein paar Meter vom Markt entfernt kniet die 26-Jährige neben einer Kiste voller Gurken, Tomaten, Bananen und Mangos. „Als Studentin habe ich angefangen, Lebensmittelreste zu sammeln, weil ich nur wenig Geld hatte“, sagt sie. „Dabei ist mir bewusst geworden, wie viel Essen weggeworfen wird. Man muss gar nicht mehr im Supermarkt einkaufen gehen.“ Stattdessen sammelt sie auf dem Markt und geht „containern“, also Mülltonnen nach verwertbaren Lebensmitteln durchsuchen. Beliebte Anlaufstellen dafür sind die Hinterhöfe von Supermärkten. Dort finden sich vor allem Nahrungsmittel mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum.

In der Filiale einer Bioladenkette am Kottbusser Damm werden die Mitarbeiter häufig von Hilfsorganisationen angesprochen. Ihnen geht es darum, noch genießbare Lebensmittel zu retten. Heute sind die übriggebliebenen Brote und Joghurts für die Berliner Initiative „Lebensmittelretter“ reserviert. Gegenüber räumt Blumenverkäufer Can gerade seine Frühlingssträuße nach innen. Gern verschenkt er die Margeriten, die sonst liegen bleiben würden.

Sylvia arbeitet in der Bäckerei an der U-Bahn-Station Kottbusser Tor. In ihrer Theke liegen kurz vor Ladenschluss, um 19.30 Uhr, noch 25 Sandwiches, acht Donuts, drei Franzbrötchen, fünf Croissants. „Ne Appeltasche hab ick ooch noch“, sagt sie. „Freitags und samstags wird alles weggeworfen.“

Von den Bezirken Kreuzberg und Neukölln geht es nach Berlin-Mitte. Was passiert mit den überschüssigen Nahrungsmitteln in der schicken Gegend rund um die Friedrichstraße?

19.00 Uhr, Starbucks, 30 Minuten vor Schluss. In diesem „Coffee House“ können die Mitarbeiter schon abschätzen, was nicht mehr verkauft wird. Bereitwillig verschenken sie ein Ziegenkäse-Ciabatta. „Nach Ladenschluss wäre das nicht mehr möglich gewesen“, sagt ein Barista. „Dann läuft offiziell das Mindesthaltbarkeitsdatum der Produkte ab.“ Das Unternehmen könnte dann haftbar gemacht werden.

McDonald’s, sechs Stunden vor Feierabend. Hier stillen noch etliche Menschen ihr Fastfood-Verlangen. An einer Theke sortiert die Verkäuferin zwei übriggebliebene Brownies, einen Blaubeer-Muffin und zwei Croissants in eine Karton-Schachtel. „Bevor ich es wegwerfe, verschenke ich es lieber.“

Die Frau wundert sich selbst, warum hier so selten nach Lebensmittelspenden gefragt wird.

Das Nobelkaufhaus Lafayette, kurz vor 20 Uhr. Im hauseigenen Gourmetmarkt ordern die Kunden keine Burger oder Pommes. Sie interessieren sich eher für Austern und Gourmet-Schinken. Bei der Frage nach Resten weist der Mann von der Wursttheke auf die Kooperation mit der Berliner Tafel hin. Der Verein schickt seine teils ehrenamtlichen Mitarbeiter bereits seit 1993 zu Lebensmittelmärkten, die ihre überschüssige Ware für gute Zwecke bereitstellen. Was sonst die Müllabfuhr abholt, kommt so monatlich etwa 125.000 Menschen in circa 300 Berliner Sozialeinrichtungen zugute.

Im Selbstversuch retteten die taz-Reporterinnen an diesem Freitagabend 48 Esswaren vor der Tonne. Wieder Überfluss.

„foodsharing.de“ ist darauf spezialisiert. Dort kann jeder übriggebliebene Lebensmittel als „Essenskorb“ anbieten und mit Interessierten teilen.

Tamara aus Pankow hat ein für diese Jahreszeit ungewöhnliches Angebot ausgeschrieben: Zehn Wassereis zu verschenken! „Die liegen in meiner Kühltruhe, obwohl ich sie selbst gar nicht mag“, erklärt die 23-Jährige. „Ich möchte aber keine Lebensmittel mehr wegwerfen – deswegen biete ich sie online an.“

Wir stellen den taz-Essenskorb online. Nach nur einer Stunde sind schon vier Anfragen im Posteingang des foodsharing-Accounts. Marianne war die Schnellste. Die 58-Jährige freut sich über das pralle Essenspaket: „Was eigentlich für den Mülleimer bestimmt war, erspart mir einen ganzen Einkauf.“

NADINE HACKEMER, MADELEINE HOFMANN, MARIE NEUWALD