: Die guten alten Bekannten
Kanzlerin Angela Merkel und ihr Kabinett regieren nun schon eine ganze Weile – aber eine neue Ära hat nur offiziell begonnen. Wann wird sich der Regierungswechsel auch kognitiv verankern?
VON MARTIN REICHERT
Im Moment wäre es hilfreich, stets eine ausgedruckte Kabinettsliste bei sich zu führen, in Folie eingeschweißt. Egal ob man Radionachrichten hört, Tageszeitung liest oder abends vor den Nachrichtensendungen sitzt, stets stellt sich die Frage: Wer ist denn dieser Herr, der vorgibt Verteidigungsminister zu sein? Wo ist Peter Struck, eben hat man ihn doch noch irgendwo gesehen! Und wenn Otto Schily nun in Bezug auf die verschleppende Tätigkeit des CIA behauptet, erstens nichts gewusst und zweitens alles richtig gemacht zu haben, was hat sich dann geändert? Ist er womöglich noch Innenminister und wie heißt eigentlich der Neue? Der neue Außenminister heißt übrigens Frank-Walter Steinmeier und hat bereits im Sommer 2004 von der Verschleppung al-Masris erfahren. Er ist nicht zu verwechseln mit Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen.
Ja, eine neue Ära hat begonnen, die der großen Koalition unter Angela Merkel. Andererseits ist die Dame gefühlt bereits seit dem 23.Mai dieses Jahres in Amt und Würden, also seit dem Abend des NRW-Wahlergebnisses, es war bloß noch nicht offiziell. Nun sitzt sie tatsächlich im Kanzleramt und alles ist wie vorher, eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es fehlt der Bruch, die Markierung, keine Zäsur nirgends: kein Rotwein, mit dem auf das Ende ewig währender Unions-Herrschaft angestoßen wurde wie 1998, nicht mal ein Glas Sekt. Stattdessen kühle Sachlichkeit, kein Alkohol auf nüchternen Magen bitte. Und im Kabinett tummeln sich vertraute Gesichter, wenngleich sie mitunter andere Rollen spielen.
Merkwürdig, wenn Horst Seehofer ankündigt, mit der „gesamten deutschen Fleischwirtschaft“ zu reden anstatt mit der Kassenärztlichen Vereinigung. Fleisch- statt Skalpell-Mafia, dann eben so. Und gleich noch einen „Zehn-Punkte-Plan“ zur Verschärfung der Kontrollen in der deutschen Fleischindustrie ankündigen, bei Helmut Kohl in die Lehre gegangen, wir erinnern uns, jener Kanzler, der wie kein anderer die Rolle des ewigen Wiedergängers beherrscht und kraft seiner Erscheinung epochale Grenzen zu überwinden vermag – bis heute. Sigmar Gabriel hingegen ist nun einfach nicht mehr für Popmusik zuständig, sondern für Reaktorsicherheit, nimmt sich nicht viel, und Michel Glos kümmert sich um den Aufbau Ost und die Autobahnen. Ach nein: Das macht Wolfgang Tiefensee.
Nicht zu vergessen die Grünen, die in Gestalt von Hans-Christian Ströbele zumindest immer noch einfach da sind und tun, was sie immer tun: Ströbele hat sich dafür ausgesprochen, die Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG) des Bundestages für die Öffentlichkeit transparenter zu machen. Alles wie immer.
Die neue Regierung ist de facto auch die alte, zum Teil jedenfalls. Eine weitere Merkwürdigkeit in einem Land, dass sich angeblich so sehr nach Veränderung sehnt, einen Ruck herbeiwünscht bzw. herbeiwünschen soll. Stattdessen geht auch nach diesem Regierungswechsel das Leben einfach weiter – und die BürgerInnen werden eine Weile brauchen, bis sie sich an einen „Wechsel“ gewöhnt haben, der nun jene Reformen herbeiführen soll, die längst begonnen wurden. Zu lange hatte die Übergangsphase von Rot-Grün zu einer großen Koalition gedauert, inklusive Wahlkampf und Koalitionsverhandlungen, als dass nun ein Ankommen in selbiger als etwas Herausragendes empfunden würde.
Wahrscheinlich bedarf es eines besonderen Ereignisses, obskure CIA-Tätigkeiten reichen da nicht, einer besonderen Situation welcher Art auch immer – es muss ja nicht gleich eine Katastrophe sein – damit sich der Regierungswechsel auch kognitiv verankert. Bis dahin ist es jedem überlassen, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen: Zustände des noch nicht Festgezurrten, des Übergangs offerieren immerhin Leerstellen, die mit Neuem beschrieben werden können.