Auf der anderen Seite des Wahnsinns

TONSPUR Das Festival MaerzMusik stellte den Komponisten Gene Coleman im ehemaligen Stummfilmkino Delphi vor

Coleman will eine Tonspur erzeugen, die der Bildspur ebenbürtig ist

VON TIM CASPAR BOEHME

Am Montag gab es vermutlich einige Besucher von MaerzMusik, die mit langen Gesichtern in der Kantstraße 12a standen. Denn sofern Sie dort ins Delphi-Kino gekommen waren, um das Porträtkonzert mit Filmmusikarbeiten des US-amerikanischen Komponisten Gene Coleman zu hören, mussten sie stattdessen mit der Romanverfilmung „Nachtzug nach Lissabon“ Vorlieb nehmen, zu dem die Musik übrigens von Annette Focks stammt.

Das Konzert von Gene Coleman wurde in Weißensee gegeben, wo das „ehemalige Stummfilmkino Delphi“, so der offizielle, zur Vermeidung von Verwechslung gewählte Name, an die Hochphase des Stummfilms erinnert, die der Stadtteil zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte. Im Lixie-Filmatelier ganz in der Nähe entstand unter anderem „Das Cabinet des Dr. Caligari“, und ähnlich surreal wie die Bauten in Robert Wienes Expressionismus-Meilenstein mutet auch das unsanierte Gewölbe des Kinosaals an – das Kino schloss Ende der fünfziger Jahre und diente danach unter anderem als Lagerhalle. Erst vor Kurzem wurde es an einen neuen Eigentümer verkauft und seitdem für gelegentliche Veranstaltungen wieder geöffnet.

Das alte Kino ist ein wunderbarer Ort, um Gene Colemans Programm vorzustellen – sieht man einmal von der unzureichenden Beheizung ab, die sich dank der winterlichen Außentemperaturen irgendwann unangenehm bemerkbar machte: Das zentrale Stück des Abends war eine Komposition zu Teinosuke Kinugasas Stummfilmklassiker „A Page of Madness“ von 1926, einem fast 50 Jahre verschollenen, frühen Werk des Pioniers des japanischen Films.

Erzählt wird darin die Geschichte eines Hausmeisters einer psychiatrischen Anstalt, dessen Frau als Patientin in einer Zelle lebt. Teinosuke Kinugasa experimentierte in seiner stark expressiven Bildsprache mit Doppelbelichtungen und Zooms, die unvermittelt zwischen Wachen und Träumen wie zwischen Vernunft und Wahnsinn hin und her springt.

Coleman, Jahrgang 1958, ist gegenwärtig Fellow der American Academy in Berlin und unterhält vielfältige Verbindungen zu Improvisationsmusikern in Europa wie Japan. Er wollte in seiner Musik nicht der üblichen Vorgehensweise bei der Vertonung von Stummfilmen folgen, bei der das Bild dem Ton übergeordnet ist, sondern eine autonome „Tonspur“ erzeugen, die der Bildspur ebenbürtig ist. Entsprechend verweigert er jegliche illustrativen Gesten, mit denen die Filmmusik zur lediglich kommentierenden Verstärkung des Visuellen reduziert wird.

Das österreichische Ensemble Phace spielte das an den Grenzen von Ton und Geräusch, Komposition und Improvisation, Westen und Osten operierende, sparsam artikulierte Stück mit konzentrierter Zurückhaltung und bildete so einen zurückhaltenden Gegenpart zum oft dramatisch inszenierten Wahnsinn des Films. Europäische Instrumente trafen dabei auf das japanische Sho, eine Art Mundorgel, und das Saiteninstrument Koto. Einen Dialog im engeren Sinne konnte man jedoch nicht erkennen, eher ein wenig exotisches Kolorit.

Weniger geglückt war das zuvor gespielte „Spiral Network“, zu dem Coleman einen eigenen Film beigesteuert hatte. Hier wirkte die vollständige Verweigerung von Erzählung in Bild und Ton auf Dauer eher ermüdend als die Sinne öffnend. Architektonische Detailbilder wechselten mit leicht verpixelten Projektionen japanischer Schriftzeichen oder ornamentalen Zweigdetails – keine ernsthafte Bereicherung der Musik.

■ MaerzMusik, bis 24. März; www.berlinerfestspiele.de