zwischen den rillen
: Die Schmerzensfrauen

Auf den neuen Alben von Mary J. Blige und Bettye Lavette wird Seelenpein in große Kunst verwandelt

Als er Mitte der Achtziger in einem Interview nach seiner Meinung zum zeitgenössischen R&B gefragt wurde, bekam Miles Davis einen seiner gefürchteten Wutausbrüche: Er sei diese ganzen Jazzkritiker Leid, die immer noch Billie Holiday und dem tiefen Ausdruck hinterherjammern würden, den sie ihrem Schmerz gegeben habe. Wo es doch ein großes Glück sei, dass schwarze Frauen diesen Blues nicht mehr singen müssten und stattdessen Künstlerinnen wie Janet Jackson andere, selbst bestimmte Produktionsmodelle entwickelt hätten – Letztere hatte gerade ihr Album „Control“ veröffentlicht.

Das war 1986, und was genau die fünfzehnjährige Mary J. Blige zu jenem Zeitpunkt machte, dürfte nicht mehr so ohne weiteres rekonstruierbar sein – doch das Künstlerinnenmodell, mit dem sie in den Neunzigern zur größten Soulsängerin wurde, organisierte sich eng an dem Billie Holidays entlang: kaputte Beziehungen, schlagende Männer, Drogen- und Alkoholmissbrauch verschränkten sich bei ihr zu einem unentwirrbaren Dickicht, aus dem sie dann ihre Kunst formte.

Dass sie sich seit einiger Zeit aus diesem Kreislauf befreit hat und mit „The Breakthrough“ nun nach dem fantastischen „No More Drama“ und dem durchwachsenen „Love & Life“ schon das dritte Album aufnimmt, das sich dieser Behauptung widmet, wirft einen aber genau in das von Davis beschriebene Dilemma: Die große Kunst von Mary J. Blige ist ihre Gabe, wie keine Zweite die schwarze Schmerzensfrau geben zu können. Ein so wunderbares wie zwiespältiges Vergnügen. Denn es gibt keine zweite Soulsängerin ihrer Generation, die eine ähnlich ausdrucksstarke Stimme hat, in deren Stimme so viele Spuren von Schmerz mitschwingen – und gleichzeitig ist das der Motor, der sie künstlerisch am Laufen hält.

Und das ist dann auch das Problem von „The Breakthrough“: Stagnation auf hohem Niveau. Natürlich ist es immer noch eine großartige Platte, ihre Faszination bezieht sie aber daraus, immer wieder aufs Neue in Seelenpein eintauchen zu können, die Blige im gleichen Atemzug überwunden zu haben behauptet. Raphael Saadiq hat ihr einige Stücke geschrieben, die in ihrem Old-School-Gefühl perfekt zu Bliges Stimme passen. Daneben gibt es modernistisch R-&-B-Schieber wie „Good Woman Down“. Dass einem das manchmal vorkommt wie eine schwarze, weibliche und früh gealterte Version von Johnny Cash, liegt wohl nicht nur daran, dass sie sich die Freiheit herausnimmt genau wie Cash den U2-Song „One“ zu covern. Auch bei Cash wunderte man sich manchmal, ob man ihn in seiner Tragik nicht auch zu Tode liebt.

Auch Bettye Lavettes Album „I’ve Got My Own Hell To Raise“ erinnert an Johnny Cash, aus ganz anderen Gründen allerdings als Mary J. Blige: Nach einer Karriere voller Fehlschläge hat Lavette von dem jungen Produzenten John Henry nun jene Behandlung erfahren, die Rick Rubin in den frühen Neunzigern Cash für die „American Recordings“ angedeihen ließ – man nehme eine große Stimme, der man all das Leid anhört, durch das sie gegangen ist, und gebe ihr den angemessenen Raum, ihre Erfahrungen auszubreiten.

Bettye Lavette hat einiges Pech gehabt in ihrem Leben. Geboren 1946 im tiefen amerikanischen Süden, nahm sie mit 16 ihre erste Platte bei einem kleinen Label auf, die ihren Weg zur großen Firma Atlantic fand und ihr prompt zu einem Vertrag verhalf. Für Atlantic hatte sie tatsächlich einen Hit, „My Man – He’s a Loving Man“, um von da an nur noch Pech zu haben. Nach einigen Misserfolgen kündigte sie nämlich bei Atlantic, um eine Kleinlabel-Odyssee zu beginnen, die zwar einige Platten abwarf, für die Sammler heute viel Geld hinlegen – Lavette hatte nichts davon. In den frühen Siebzigern landete sie dann wieder bei Atlantic, spielte sogar ein Album ein, das mit viel Aufwand aufgenommen wurde – es erschien allerdings nie. Ihr Ausflug in das Disco-Genre war zwar ebenfalls von einem so fantastischen Stück gekrönt, doch wirklich wohl fühlte sich Lavette mit „Doin’ The Best That I Can“ nie – kein Wunder, war doch der eigentliche Star dieser Disco-Sinfonie der Remixer Walter Gibbons. In einem Satz: Sie hätte die große Sängerin des Southern Soul werden können, es hat nicht sollen sein.

Und davon handelt „I’ve Got My Own Hell To Raise“, implizit und explizit. Es ist eine auf das Wesentliche heruntergeschaltete Southern-Soul-Platte, fast schon Blues. Sie lebt von einer Stimme, deren Glück ist, wie überzeugend sie den tragischen Schmerz über das Pech mitschwingen lassen kann, das sie im Leben gehabt hat. Sei es in einem Stück wie „I Do Not Want What I Haven’t Got“, in dem sie ihre Lebensgeschichte erzählt, sei es in einer Masochisten-Hymne wie „Just Say No“.

TOBIAS RAPP

Mary J. Blige: „The Breakthrough“ (Geffen/Universal); Bettye Lavette: „I’ve Got My Own Hell To Raise“ (Anti/SPV)