: berliner szenen Kleine Schlossdebatte
Wir sind Weltkonzern
Ich stehe zwischen nostalgisch aufgeladenen Rentnern hinter dem Modell des Berliner Doms und sehe gegenüber das Stadtschloss glänzen.
„Die Berliner wollen endlich ihren historischen Stadtkern wiederhaben“, klärt mich die winzige ältere Dame auf, die mir sofort eine Vereinszeitung aufnötigt, stutzt und mich scharf anblickt: „Sind Sie für oder gegen den Wiederaufbau?“ Ich muss zugeben, dass ich es lieber sähe, den Palast der Republik zu sanieren, anstatt ihn diesen Winter abzureißen. Die Dame lehnt sich prompt ein wenig zurück und spricht mit gelüpften Brauen: „Hmja, es ist ja auch gut, dass wir in einer Demokratie leben, wo jeder sagen kann, was er denkt.“ Ich pflichte ihr bei, obwohl ich sehen kann, dass sie diese Tatsache eigentlich schwer bedauert.
„Warum möchten Sie das Schloss denn wieder aufbauen?“, frage ich sie so unbedarft wie möglich. „Kostet doch einen Haufen.“ Und sie, überzeugt: „Ja, aber die Berliner wollen endlich ihren historischen Stadtkern wiederhaben!“ Ich, abwägend: „Und wie wollen Sie das bezahlen?“ Sie, verschwörerisch: „Das Bertelsmann-Haus, das haben Sie auch wieder aufgebaut, das ging zack, zack!“ Ich, skeptisch: „Die kleine Hütte! Und Bertelsmann ist ja auch ein Weltkonzern!“ Sie, auftrumpfend: „Ja, aber in ein paar Jahren sind wir das auch!“ – und in ihren Augen funkelt es leicht größenwahnsinnig. Danach lächelt sie mich siegesgewiss an und sagt gütig: „Ich finde es gut, dass wir darüber so offen reden können.“ Pause. „Aber ich werde mir Ihr Gesicht merken. Und wenn Sie in ein paar Jahren vor dem Schloss ihren Kaffee trinken, werde ich zu Ihnen kommen, und dann müssen Sie zugeben, dass ich Recht hatte.“ – „Darauf freue ich mich schon“, lüge ich. HANNES BAJOHR