Die neue Großfamilie

„In westlichen Ländern machen Alte in Heimen oft einen traurigen Eindruck“

AUS TOKIO SVEN HANSEN

Bei der Morgengymnastik auf dem Hof des Altersheims, in dem Tsukasa Ishidoya seit zehn Jahren lebt, macht der 76-Jährige von Montag bis Freitag immer wieder die gleiche Erfahrung: Kinder stehen vor dem Weißhaarigen Schlange, um sich von ihm schaukeln zu lassen. Manchmal schaukelt Ishidoya gleich zwei Knirpse auf einmal. Der Alte, ein früherer Hausmeister, genießt es, bei den Zwei- bis Fünfjährigen beliebt zu sein und ihnen etwas geben zu können: „Das macht großen Spaß hier.“

Dies verdankt Ishidoya der besonderen Konzeption des Heimes namens Kotoen. Denn die Einrichtung in Tokios östlichstem Bezirk Edogawa integriert unter einem Dach ein Seniorenwohn- und -pflegeheim mit einem Kindergarten. „Unser Ziel ist eine große Familie zu sein,“ sagt Keiko Sugi, die Schwiegertochter des Gründers und vorsitzende Direktorin. „Wir finden es hier wichtig, dass Jung und Alt zusammen leben, schließlich war das früher in Japan doch ganz normal.“

Kotoen hat Platz für 100 Senioren von 65 bis 100 Jahren und für ebenso viele Kinder von 0 bis 6. Sie werden von 176 Mitarbeitern betreut, knapp die Hälfte davon Vollzeitkräfte. Die erfahrene Direktorin Sugi besuchte schon Altenheime in Australien, Schweden, Deutschland und Singapur. Ihr fiel auf: „In westlichen Ländern ist der Wohlfahrtsstaat gut organisiert, doch machen in den Heimen dort die Alten oft einen traurigen Eindruck. Sie sind einsam.“

Kotoen versucht als künstliche Großfamilie der Vereinsamung entgegen zu wirken und Kindern den täglichen Kontakt mit „Großeltern“ zu ermöglichen. Auch im modernen Japan gilt noch immer das Ideal der traditionellen Großfamilie von drei Generationen unter einem Dach, obwohl es immer seltener der Realität entspricht. Kotoen versucht, unter heutigen Bedingungen Realität und Ideal in Einklang zu bringen.

„In Kotoen lernen die Kinder alte Traditionen wie zum Beispiel Origami,“ sagt Kazuko Nakano. Die traditionelle Papierfalttechnik lernten die Kinder in den elterlichen Kleinfamilien kaum noch. Stattdessen würden sie mit Gameboys oder Computern spielen, meint die Mutter zweier Töchter. Nachdem ihre inzwischen Siebenjährige bereits Kotoens Kindergarten besuchte, bringt Nakano jetzt täglich ihre neunmonatige Tochter. „Meine Ältere hat hier erlebt, wie ein Mann gestorben ist. So begriff sie, dass das Leben endlich und kein Computerspiel ist.“

Für die Kinder beginnt der Tagesablauf mit der gemeinsamen Morgengymnastik mit den Alten im Hof. Wer von denen nicht mehr stehen kann, macht die Übungen im Sitzen. Die Kleinkinder, die noch nicht Laufen können, schauen mit ihren Betreuerinnen vom Rand aus zu. Nach dem abschließenden Lauf in Kleingruppen durch das angrenzende Stadtviertel spielen dann Jung und Alt für 10 Minuten zusammen im Hof.

Das Schaukeln auf dem Arm beim rüstigen Ishidoya ist sehr beliebt. Doch auch die Senioren, die bei der Gymnastik sitzen bleiben und auch nicht mehr mitlaufen können, werden von den Kindern umringt. Denn diese wollen bei den Alten auf den Schoß klettern, von ihnen gedrückt werden oder das Fingerspiel „Papier, Schere, Stein“ spielen. Anschließend ziehen sich beide Gruppen mit ihren Betreuern zu getrennten Aktivitäten auf ihre jeweiligen Stockwerke zurück.

Im Erdgeschoss des V-förmigen Gebäudes sind der Kindergarten und Gemeinschaftseinrichtungen wie die Veranstaltungshalle, Küche, Wäscherei und Verwaltung. Im ersten Stock ist das Altenheim, im zweiten das Pflegeheim für Senioren einschließlich Demenz- und Alzheimererkrankter. Naturgemäß haben die Pflegefälle weniger Umgang mit den Kindern, doch gelten selbst passiver Kontakt und nonverbale Kommunikation mit diesen als Kraft spendend. Kotoen machte die Erfahrung, dass die ganz Alten mit den jüngsten Kindern am besten zurecht kommen, während tobende fünfjährige Jungen auch Rüstigen wie Ishidoya zu anstrengend werden können.

Kotoen ist Japans älteste generationenintegrierte Einrichtung. Seit 1962 gibt es das Altersheim. Ab 1976 betrieb die Familie von Sugis Schwiegereltern auf dem gleichen Gelände auch einen Kindergarten. Schon damals gab es organisierte gegenseitige Besuche beider Einrichtungen. Doch trotz der japanischen Tradition, die Respekt vor Alten einfordert, gab es auch Vorbehalte von Eltern und Kindern gegenüber den Senioren, die als stinkig oder dreckig bezeichnet wurden. Kotoen setzte sich zum Ziel, diesen Vorbehalten mit verstärkter Integration entgegen zu wirken.

Als 1986 ein Neubau anstand, war daher nahe liegend, Altersheim und Kindergarten nicht nur in einem Gebäude unterzubringen, sondern gegen die Vorbehalte der Behörden auch konzeptionell zu integrieren. Diese gilt auch für das 1991 gegründete Pflegeheim, das im zweiten Stock untergebracht ist. Die Behörden, die Angst vor Verletzungen der Alten durch tobende Kinder und vor der gegenseitigen Übertragung von Krankheiten hatten, forderten zum Beispiel in der großen Halle den Einbau einer mobilen Trennwand. Doch diese Wand wurde nie benutzt wie sich auch die Sorge vor Ansteckungen als unbegründet erwies.

„Die Kinder lernen hier im Umgang mit den Alten soziales Verhalten und Rücksicht zu nehmen“, sagt Sugi. „Das geht leider wieder verloren, wenn sie älter und auf höheren Schulen sind. Deshalb würde ich auch gern eine generationenintegrierte Schule betreiben.“ Zu Kotoens Regeln gehört, dass die Kinder weiße Hausschuhe anziehen müssen, sobald sie das erste oder zweite Stockwerk der Alten betreten. So werden sie symbolisch daran erinnert, dort Rücksicht zu nehmen.

Die singapurische Sozialwissenschaftlerin Leng Leng Thang untersuchte Kotoen in einer Studie. Sie stellte fest, dass die Beziehungen zwischen Kindern und Alten dort kollektiv und nicht individuell sind. Die Begegnung finde in Gruppen statt. Persönliche Beziehungen zwischen Kindern und Senioren gebe es kaum, was sich darin äußere, dass die Kinder schnell die Namen der Alten vergessen, sobald sie von Kotoen auf die Schule wechseln. Auch gebe es dann kaum noch Kontakte. Thang führt diese Art der Beziehungen auf die traditionelle japanische Kultur zurück, in der das Individuum hinter der Gruppe zurücksteht und früh lernt, darin aufzugehen und sich ihr anzupassen. Thang spricht deshalb von „kollektiver Großelternschaft“ der Alten von Kotoen. Diese sei zudem ereignisbezogen, da sie sich nach den von Betreuern organisierten Programmen richte. Laut Thang steigert die Fähigkeit der Senioren, sich um ein Kind zu kümmern, das Selbstwertgefühl der Alten. Dabei bereichere der Kontakt zu den Kindern auch das Verhältnis der Alten untereinander oder wie es eine von Thang zitierte Seniorin ausdrückt: „Es ist definitiv gut, Kinder um sich zu haben statt nur Gruppen von Alten, die, wenn sie zusammenhängen, nichts anderes tun, als über ihre Schmerzen und Gebrechen zu reden.“

Die Kinder ihrerseits genießen die Aufmerksamkeit der Alten. Während außerhalb Kotoens Geldgeschenke der Großeltern oft die Verhältnisse zu den Enkeln prägen und es meist nur ein- bis zweimal im Jahr zu einem Treffen kommt, gibt es diese materielle Beziehung bei Kotoen nicht. Hier gibt es nur selbst gebastelte Geschenke ohne materiellen Wert, die zuvor in der Gruppenarbeit individuell gefertigt wurden. Statt Geld erhalten die Kinder in Kotoen Aufmerksamkeit von den Alten.

Außer bei der gemeinsamen Morgengymnastik und bei Festen gibt es Kontakte zwischen den Generationen bei den Besuchen der jeweiligen Gruppen untereinander. Wöchentlich besucht eine Gruppe Alter die Kinder. Die Kinder ihrerseits besuchen die Aufführungen der Hobby-AGs der Alten, wo diese zum Beispiel auf traditionellen Instrumenten den Kindern alte Volkslieder vorspielen oder etwa Ikebana (Blumensteckkunst) präsentieren. Und nachmittags, bevor die Eltern ihre Kinder abholen, gibt es täglich die Möglichkeit des freien gemeinsamen Spiels. Thangs Studie stellt fest, dass es eher zu viele als zu wenige gemeinsame Aktivitäten zwischen den Generationen gibt, denn diese hielten Alte und Betreuer ziemlich auf Trab.

„Manchmal ist es hier sogar besser als in einer Familie,“ meint Direktorin Sugi. „Denn in den Familien gibt es oft Streit und die Kinder sind oft einsam, weil die Eltern abends so spät nach Hause kommen. Hier sind die Alten für sie da.“ Der 76-jährige Ishidoya rückt gerade einem kleinen Mädchen in der großen Halle, wo die Kinder auf dem Boden den Mittagsschlaf machen, die Windel zurecht: „Hier habe ich zum ersten Mal gelernt Windeln zu wechseln“, sagt er. „Dabei habe ich selbst zwei Töchter, aber damals habe ich das nicht gemacht. Erst hier konnte ich als alter Mann wieder eine Beziehung zu Kindern entwickeln.“ Ishidoya strahlt.