„Eure Judeophilie befremdet mich“

Warum der zwanghafte Multikulturalismus, wenn’s um Juden geht, nur Versäumnisse gegenüber den Muslimen verschleiert: Ein Gespräch mit dem israelischen Schriftsteller Jitzhak Laor über den Nahostkonflikt und das deutsch-israelische Verhältnis

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Laor, Ihr neuer Roman „Ecce Homo“ handelt wie der Vorgänger davon, was der Palästinakonflikt mit der israelischen Gesellschaft macht. Warum beschäftigt Sie das Thema?

Jitzhak Laor: Mich erstaunt eher, wie man inmitten eines solchen Blutbads Bücher schreiben kann, die nicht davon handeln. Die Mehrheit der israelischen Literatur handelt nicht davon. Weil die meisten Israelis in kompletter Verdrängung leben. Aber wenn man morgens sein Kind zur Schule bringt und nicht weiß, was passieren wird – wie kann man nicht davon erzählen? Meinetwegen aus der Opferperspektive – auch wenn ich nicht der Meinung bin, dass die Israelis bloß Opfer sind.

Sie sind nicht allzu glücklich über die literarische Szene in Ihrem Heimatland?

Das stimmt. Man muss aber auch sagen, dass mit der Übersetzung hebräischer Literatur ins Ausland eine Auswahl einher geht. Zum einen gibt es Literatur, die sich nicht einfach übersetzen lässt, oder, noch wichtiger, die nicht dem entspricht, was man von hebräischer Literatur erwartet. Zum anderen findet eine politische Auswahl statt.

Inwiefern?

Wussten Sie, dass die meisten Übersetzungen durch den israelischen Staat finanziert werden? Es gibt eine staatliche Institution, die Übersetzungen fördert. Sie spielt quasi Agent und Übersetzer. Was mir dabei nicht behagt, ist die Art und Weise, in der sich Israel durch seine Autoren dem Westen präsentiert – indem es leugnet, dass wir eben kein Teil des Westens sind.

Wie meinen Sie das?

Der israelische Nationalismus mag seiner Form nach westlich erscheinen, aber diese Form wird Menschen aufgedrückt, die aus 40 oder 50 verschiedenen Ländern stammen und 15 verschiedene Sprachen sprechen. Die beste Art, Israel als ganz normales Land darzustellen, ist, diese Problematik zu leugnen.

Im Zentrum Ihres Romans steht ein Exgeneral der israelischen Armee, den Erinnerungen aus der Vergangenheit plagen. Seinen Gewissenskonflikt zeichnen Sie als Farce. Warum?

Mich hat immer dieser falsche Weltschmerz interessiert, diese angebliche Zerrissenheit, der Zynismus der Elite. Denn das System würde nicht funktionieren, wenn es nicht eine Elite gäbe in Medien, Politik, im Militär und in der Wirtschaft, die weiß, dass etwas schief läuft, aber die sich sagt: Egal, das System muss funktionieren.

Halten Sie die israelische Gesellschaft nicht für traumatisiert?

Wenn eine Gesellschaft traumatisiert ist, heißt das, dass es einen Bruch in der Ideologie gibt. Trauma bedeutet die Unmöglichkeit, etwas zu beschreiben. Die Vorstellung ist gebrochen. Nein, ich glaube nicht, dass die israelische Gesellschaft traumatisiert ist. Ich glaube, das ist nur eine Entschuldigung, um keine Fragen beantworten zu müssen. Ich meine das nicht nur in Bezug auf die Palästinenser: Jeder weiß, dass unsere Gesetze zur Staatsbürgerschaft rassistisch sind. Aber wer sagt das schon?

Das ist eine akzeptierte Doppelmoral?

Ja, und in Israel kommt diese Doppelmoral immer dann zum Vorschein, wenn über Demografie und Quoten gesprochen wird. Da wird in einer Art und Weise über Mischehen gesprochen – und zwar nicht von religiöser Seite! –, wie das nur Rassisten tun: Es heißt, es wäre schlecht für die Nation. Können Sie sich das vorstellen?

Erklärt sich der Opferdiskurs, mit dem Israel seine Politik legitimiert, nicht durch den Holocaust?

Es gibt nur wenige Phasen, in denen wir uns nicht als Opfer gesehen haben. Doch die Schoah ist heute die einzige Geschichte, die kohärent erscheint und unserem Leben Sinn verleiht. Das ist etwas Neues. In den Fünfzigerjahren hieß ein guter Israeli zu sein, etwas für den Staat zu tun: Man ging zur Armee, trat einer Jugendbewegung bei oder arbeitete als Hebräischlehrer. Heute muss man sich nur noch mit der Vergangenheit identifizieren, damit, ein Opfer zu sein. Diese Veränderung hat erst in den Neunzigerjahren eingesetzt.

Weil die zionistische Ideologie in die Krise gekommen ist?

Der Libanonkrieg war ein echter Bruch: Es war das erste Mal, dass die Leute der Armee nicht mehr alles geglaubt haben. Dann kam die erste Intifada, ein weiterer Schlag für das israelische Selbstbild. Aber jetzt ist es wieder hergestellt. Beim Ausbruch der zweiten Intifada war sofort klar, dass die Palästinenser daran ganz allein die Schuld zu tragen hätten. Und dann kam auch noch dieser furchtbare Diskurs über den „neuen Antisemitismus“ auf …

Wie kam dieser Diskurs auf?

Der israelische Staat hat ihn aufgebracht. Dieser Diskurs setzte mit der Wiederbesetzung des Westjordanlands ein, und mit den schockierten Reaktionen der Weltöffentlichkeit darauf.

Hat dieser Diskurs nicht viele Väter? Ideologien werden nicht nur durch den Staat verbreitet.

Schauen Sie, die FAZ gehört nicht zur CDU. Aber sie teilt die Ansichten von Angela Merkel, wenn es um die Reform der deutschen Wirtschaft geht. Jemand muss aber das Thema setzen, den Diskurs anstoßen. Wie viele Millionen werden denn für PR-Kampagnen bei Wahlkämpfen ausgegeben? Staaten verfahren in ganz ähnlicher Weise. Als die USA für der Irakkrieg gerüstet haben, wie viele Millionen haben sie wohl ausgegeben, um ihre Argumente in die Welt zu blasen? Es hat nicht funktioniert, aber das ist eine andere Sache.

Der Diskurs über den „neuen Antisemitismus“ hat dagegen gut funktioniert.

Das einzige Land, in dem es nicht so gut ankam, ist Großbritannien. Aus einem guten Grund: Diejenigen, die Israel gegenüber kritisch eingestellt sind, sind selbst hauptsächlich Juden. Ich will damit nicht sagen, es gäbe keinen Antisemitismus. Ich frage mich nur: Was ist neu am neuen Antisemitismus?

Als neu gilt der Antisemitismus unter Muslimen.

Mir ist diese Israelliebe, die mit einem Hass auf die Muslime einher geht, sehr suspekt. Ich bin kürzlich mit einem orthodoxen Freund durch die Straßen Berlins gegangen, und wir sind an diese ganzen neuen jüdischen Buchläden und koscheren Delis vorbei gekommen. Etwas befremdet mich an dieser Judeophilie in Deutschland. Ich frage mich, ob dieser zwanghafte Multikulturalismus, wenn es um Juden geht, nicht ein paar Versäumnisse auf der anderen Seite verschleiert. Ich frage mich auch, warum während all dieser antimuslimischen Hetze der letzten Jahre niemand aus der Jüdischen Gemeinde in Deutschland aufgestanden ist und gesagt hat: Hier läuft etwas schief.

Ignatz Bubis hat sich engagiert, als Ausländer und Asylbewerber durch Rechtsextreme bedroht wurden.

Ja, aber er gehörte einer anderen Generation an. Die jüngere Generation bereitet mir Sorgen. Man kann doch nicht beides haben: die Vergangenheit erinnern und sie vergessen, wenn es um die Gegenwart geht. Ich halte das für eine seltsame politische Schizophrenie. Nehmen wir die westliche Obsession mit dem Kopftuch, dieses Argument: Sie sind nicht modern. Wir wissen doch, dass wir damit an Diskurse aus der Vergangenheit anknüpfen. Als die Franzosen Afrika modernisierten, haben sie es versklavt. Als die Engländer Indien modernisierten, haben sie es versklavt. Aber wenn ich mit einfachen Deutschen auf der Straße spreche, bin ich immer wieder überrascht über deren Selbstgewissheit. Sie verstehen nicht, dass dieser Diskurs um „Modernität“ in seiner Essenz die Forderung enthält: Seid wie wir! Kleidet euch wie wir! So wie christliche, weiße Europäer! Und dabei tut man so, als ob die Juden schon immer „wie wir“ gewesen wären. Aber mein Großvater war nicht wie Sie. Mein Großvater kam aus Galizien nach Deutschland, als er 16 Jahre alt war, er war ein religiöser Jude und trug eine Kippa.

Wie hat das Ihr Verhältnis zu Deutschland geprägt?

Ich war hier so oft wie in keinem anderen Land der Welt. Außerdem habe ich versucht, Deutsch zu lernen: Es war Teil meiner Trauerarbeit über meinen Vater. Ich bin in einem sehr prozionistischen Haushalt aufgewachsen, mein Vater war absolut für Ben Gurion und den Staat. Bei uns zu Hause wurde auch nie Deutsch gesprochen, nur Hebräisch. Dabei kam mein Vater ursprünglich aus Bielefeld.

Wann ist Ihr Vater nach Israel emigriert?

1934. Es gab wohl zwei Ereignisse, die ihn erschüttert haben. Das eine Mal war, als er seinen besten Freund plötzlich in einem SA-Zug mitmarschieren sah. Das konnte er gar nicht begreifen. Und das andere Mal war, als ihn seine SPD-Ortsgruppe nach der Machtergreifung der Nazis gebeten hat, nicht mehr zu ihren Versammlungen zu kommen. Sie hatten Angst, er würde sie gefährden. Da hat er den Glauben an die internationale Solidarität verloren und ist zum überzeugten Zionisten geworden.

Wie empfinden Sie heute das deutsch-israelische Verhältnis?

Es kommt mir wie ein schmutziger Deal vor. Nehmen sie die Fünfziger- und Sechzigerjahre: Deutschland wurde damals von Leuten geführt, die Teil des Nazisystems gewesen sind. Es schockiert mich jedes Mal, wenn ich realisiere, dass Israel mit solchen Leuten Geschäfte gemacht hat. Der Held aller Israelfreunde in Deutschland war damals Axel Springer, und ihr liebster Schreiber war Ephraim Kishon. Und jetzt, lesen Sie mal die Zeit: Da finden Sie keine ernsthafte Kritik mehr an Israel. Und wer ist ihr Held? Amos Oz. Man kann viele Sachen sagen über Amos Oz, aber er ist sicher kein Linker. Die Deutschen brauchen eben immer einen Lieblingsjuden. Ich frage mich nur: Werden wir wirklich als Schriftsteller gelesen oder als Repräsentanten von etwas anderem? Ich denke, letzteres ist der Fall. Selbst dann, wenn eine israelische Schriftstellerin nur über Sex schreibt.

Das gilt dann auch für Sie.

Ich wünsche mir natürlich, dass die Leute mich aus literarischen Gründen lesen, auch wenn ich sehr politisch bin. Ich glaube, dass Schreiben bedeutet, das Bewusstsein der Leser herauszufordern – politisch, ästhetisch, psychologisch. Das mag deutsche Ästhetik sein, von Kleist bis Brecht. Aber es geht mir nicht darum, dem Leser zu schmeicheln.