: Studenten leisten sich Hartz IV
Einen Monat lang haben Studierende der HU freiwillig von Arbeitslosengeld II gelebt. Am Ende reichte das Geld zwar knapp: Dafür verzichteten sie auf wichtige Anschaffungen, soziale Kontakte und die schönen Dinge des Alltags
Einen Monat lang haben 13 Studenten der Humboldt-Universität freiwillig von Arbeitslosengeld II gelebt. In einem Selbstversuch beschränkten sie gemeinsam mit dem Dozenten des Seminars Arbeitsmarkt und Beschäftigungspolitik ihre Ausgaben auf 345 Euro plus Warmmiete. Das ist der in Berlin geltende Satz für Hartz-IV-Empfänger. Ziel war es, die Studenten für prekäre Lebenslagen und die Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen zu sensibilisieren. „Ich habe noch 5 Euro übrig“, sagte Jann Nestlinger nach dem Ende des Versuchs am vergangenen Freitag. „Ich hatte keine großen Ausgaben, wüsste aber auch nicht, wie ich nur einen einzigen Winterpulli bezahlen sollte.“
Es war nicht das einzige Problem dieser Art: Im Laufe des Versuchmonats ging dem Studenten ein Fensterglas beim Ankippen zu Bruch. Jann Nestlinger musste darauf hoffen, dass die Hausratsversicherung für den Schaden aufkommen wird. „Wie soll man solche Extraausgaben sonst bestreiten?“ Laufende Kosten wie Versicherung und Telefon haben die Teilnehmer des Versuchs in ihr Budget einberechnet.
Normalerweise hat Nestlinger als Student nach Abzug der Miete 400 Euro monatlich zur Verfügung. Das ist nicht viel mehr als bei einem Hartz-IV-Empfänger. Doch die haben deutlich höhere Kosten, hat der 21-Jährige festgestellt. Ob Semesterticket, verbilligtes Mensaessen oder Rabatt im Kino: Für Studenten gibt es viele Ermäßigungen.
„Der Versuch ist sehr begrenzt“, sagt Dozent Michael Maschke, denn viele Benachteiligungen spüre man erst langfristig. Besonders das soziale Netz verändere sich sehr stark. Maschke musste Einladungen ausschlagen und konnte zu Geburtstagen kaum noch ein Geschenk mitbringen. Trotz starker Einschränkungen stand der Dozent am Ende mit 40 Euro im Minus. „Ich habe mir am Monatsanfang eine Winterjacke für 80 Euro gekauft, das sprengt sofort das Budget.“
Auch die Studenten empfanden die Einschränkung der Sozialkontakte als gravierend. Ein großes Problem sei auch die begrenzte Mobilität. „17,92 Euro gesteht man einem Hartz-Empfänger dafür zu – das reicht nicht einmal für ein Sozialticket“, sagt Norman Ludwig.
Den psychischen Druck und die gesundheitlichen Folgen schlechter Ernährung könne man auch nicht simulieren. Trotz der Diskussion um „Gammelfleisch“ musste er noch billigeres Essen kaufen als sonst, sagt Ludwig. „Dabei lebe ich sowieso schon sehr eingeschränkt.“
Nach Angaben der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks haben Studenten durchschnittlich 770 Euro im Monat zur Verfügung. „Es gibt dabei aber eine große Streuung“, sagt der Sprecher des Studentenwerks, Stefan Grob. So verfüge ein Teil über deutlich mehr Geld, doch 27 Prozent hätten monatlich weniger als 600 Euro. Nach Abzug der Miete, die im Schnitt 250 Euro beträgt, lebt ein Viertel der Studenten auf Hartz-IV-Niveau oder sogar darunter.
Der Sozialwissenschaftler Maschke zieht aus dem Selbstversuch das Fazit, dass man über die Berechnung des Regelsatzes noch einmal nachdenken sollte. „Kleine Summen machen da schon viel aus“, sagt er und begrüßt daher die Erhöhung des ALG-II in den neuen Bundesländern. „35 Euro sind zehn Prozent mehr – das merkt man sehr.“
Verzicht auf Kaffee
Auch die Studenten haben gespürt, dass man auf viele kleine alltägliche Dinge verzichten muss. Vom Kaffee mit Freunden bis zum Schnitzel am Sonntag. „Auch die Zeitung ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten könnte“, sagt Nestlinger. Damit fehlen Informationen über Stellenanzeigen, und der Anschluss an die Gesellschaft geht weiter verloren.
Jeder, der sagt, Hartz-Empfängern ginge es zu gut, sollte es selbst mal ausprobieren, fasst Nestlinger seine Erkenntnis zusammen. Gestern wollten die Studenten ihre Erfahrungen mit Hartz-IV-Empfängern besprechen. Eine Vermutung wurde den Studenten in Briefen von Betroffenen schon bestätigt. Jann Nestlinger ist daher froh, dass der Versuch vor Weihnachten zu Ende ist: „Menschen mit Geschenken zu beglücken ist mit Hartz IV eigentlich auch nicht möglich.“ OLIVER VOSS, DPA