: Von Kindern kalt erwischt
SCHULPLATZNOT In Berlin steigt die Kinderzahl schneller als erwartet. In manchen Bezirken platzen die Grundschulen schon aus allen Nähten. Schnelle Hilfe ist aber nicht in Sicht
VON ALKE WIERTH
Eltern, deren Kinder Europaschulen besuchen, sind es meist gewohnt, weite Wege mit dem Auto zu fahren. Wer eine der neun möglichen Sprachkombinationen an den 30 Grund- und Oberschulen will, muss oft lange Schulwege in Kauf nehmen. Doch was den SchülerInnen der deutsch-französischen Europagrundschule in Reinickendorf künftig zugemutet werden soll, lässt deren Eltern Sturm laufen.
Denn die Grundschule, derzeit im Märkischen Viertel, soll nach Heiligensee verlegt werden – gut 10 Kilometer westwärts vom jetzigen Standort entfernt. Dabei wohnen gerade mal knapp 3 Prozent der gut 300 Europagrundschüler in dem abgelegenen Stadtteil, der nur durch eine Straße mit dem Rest Berlins verbunden ist: „Das sind acht oder neun Kinder“, sagt Elternvertreterin Steffi Behling. Der Rest werde teilweise jetzt schon von weit her ins Märkische Viertel gefahren: Für diese Fünf- bis Zwölfjährigen würde der Schulweg künftig noch länger.
Hintergrund der ungewöhnlichen Zwangsumsiedlung ist der unerwartete Anstieg der Kinderzahl im Märkischen Viertel. Dem Stadtteil droht laut Prognosen des Amts für Statistik ein Zuwachs an SchülerInnen, sodass bereits zu Beginn des Schuljahres 2013/14 für 8 Grundschulklassen Räume fehlen. Bis zum Schuljahr 2017/18 wären das 35 Klassenzimmer zu wenig.
Reinickendorf ist nicht der einzige Bezirk, dessen Schulen mit Raumnot aufgrund der steigenden Zahl von Kindern zu rechnen haben. Auch Pankows Bezirksamt etwa meldet, die Grundschulen des Bezirks stünden „vor dem Kollaps“. Obwohl in den letzten fünf Jahren 8 Grundschulen mit 3.000 Schulplätzen neu eingerichtet wurden, steht der Bezirk weiter vor Versorgungsengpässen. Denn bis 2017 muss nach neuen Prognosen mit 8.000 weiteren GrundschülerInnen gerechnet werden.
Sie freue sich über die Attraktivität des Bezirks für Familien mit Kindern, sagt Pankows Schulstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz (SPD). Doch der Bezirk könne die Versorgung mit Schulplätzen nicht allein schaffen: „Wir brauchen die Unterstützung des Finanzsenators.“
Die werden auch andere wollen, denn das erfreuliche Kinderwunder hat die ganze Stadt kalt erwischt. Die Senatsbildungsverwaltung musste ihre Prognose über die Schülerzahlentwicklung von 2012 auf 2013 allein für Grundschüler um gut 19.000 nach oben korrigieren. Insgesamt wird die Schülerzahl in Berlin nach der neuen Prognose bis 2020 um gut 12 Prozent steigen: von 289.152 auf 325.630. Noch vor einem Jahr hatte die Verwaltung einen Anstieg in diesem Zeitraum auf nur 300.000 erwartet.
Neben Pankow und Reinickendorf werde der Anstieg vor allem Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg betreffen, wo die Zahl der Kinder besonders schnell steige, hat die Grünen-Abgeordnete Stefanie Remlinger, Sprecherin der Fraktion für berufliche Bildung und für Haushaltspolitik, errechnet. Sie sieht „dringenden Handlungsbedarf“, mit dem der Senat die Bezirke nicht allein lassen dürfe. Die Bildungsverwaltung solle mit den Bezirken „bis zum Sommer eine berlinweite, regionalisierte Schulentwicklungsplanung“ erarbeiten: „Und auch die Finanzverwaltung muss mit an den Tisch“, so Remlinger. Bisher sind die Bezirke dafür verantwortlich, für ausreichend Schulplätze zu sorgen.
Die schaffen das angesichts der Explosion der Schülerzahlen aber nicht: 5,2 Millionen Euro habe der Bezirk für Hochbaumaßnahmen derzeit im Haushalt, erklärt Reinickendorfs Schulstadträtin Katrin Schulze-Berndt (CDU). Der nötige Neubau von zwei Grundschulen würde 25 Millionen kosten. Mit der Senatsbildungsverwaltung sei sie wegen Unterstützung „im Gespräch“: „Aber selbst wenn wir in besondere Finanzierungsprogramme aufgenommen würden, wäre ein Baubeginn frühestens 2017 möglich“, so die Stadträtin: In Anbetracht der Schülerzahlenprognose viel zu spät.
Der unerwartete Anstieg der Schülerzahlen sei der „außerordentlich positiven Bevölkerungsentwicklung seit der Erstellung der letzten Prognose im Jahr 2008“ zu verdanken, heißt es aus der Senatsbildungsverwaltung. Man werde die Bezirke bei der Bereitstellung ausreichender Schulraumkapazität unterstützen – allerdings „abhängig vom Ergebnis der Beratungen zum Doppelhaushalt 2014/15“.
Schnelle Hilfe ist also nicht in Sicht: Für die Eltern der Reinickendorfer Europagrundschule hat jedenfalls auch ein Gespräch mit Bezirks- und Senatsbeteiligung am Mittwoch kein Ergebnis gebracht. Zwar hat die Senatsbildungsverwaltung dabei ihre grundsätzliche Unterstützung für den Erhalt des jetzigen Schulstandorts bekundet, doch praktische Hilfe aus der Notlage des Bezirks ergibt sich daraus nicht.
„Wir schätzen, dass höchstens die Hälfte der jetzigen Schüler an den Standort in Heiligensee gehen werden“, sagt Elternsprecherin Behling. „Das würde das Aus für unsere Schule bedeuten.“ Die hätte dann ein ganz ungewöhnliches Problem für den Weiterbetrieb: nämlich zu wenige Kinder.