: Auf dem Weg ins Nirwana
Spaß und Ärger in Kathmandu (II) – ermordete Könige, Maoisten, Waffen, frische Eingeweide, Aussteiger und eine unheimliche Mordserie. Noch ein paar Tage in Nepal – finstere, fiebrige Tage
AUS KATHMANDU HENNING KOBER
An schlimmen Tagen ist der Leben genannte Zustand ein großes Staunen. In der Nacht bellen die Hunde hysterisch ohne Unterlass. Am nächsten Tag ist es kühl in Kathmandu, aber vielleicht fühlt es sich auch nur wegen des Fiebers so an, das durch meinen Körper flackert. Alle tragen doch T-Shirts. Bei den Nepali-Jungs viel Beckham, viel Timberlake aufgedruckt. Oder ein anderer, etwas zu klug: „Life is drama, world ist stage“.
Ein Drama erzählt auch die Geschichte des Landes Nepal, das lange Jahre seinem Mythos vom zauberhaft abgeschlossenen Hindu-Königreich nahe war. Sitze jetzt auf einer Terrasse in Thamel, wo es weiße Brezeln gibt, und trinke sehr dicken Kaffee. Aber die Luft ist dicker, der Ruß greifbar. Die Berge verschwinden im Dunst. Gegenüber in der Einfahrt zum Kathmandu Guest House steht ein Fernseher. Im Bild zu sehen sind fröhliche junge Menschen, die sich Bungee jumpend in Schluchten stürzen. Der Sound dazu geht so: go-go-go-get-get-ho-ho-ho, everybody-ho-ho-ho, yeah-yeah-yeah, dazu Techno, gewaltig laut. Buchbar: The Last Ressort. Der Westen ist auch hier angekommen, mit allem, was das zu Hause manchmal so unerträglich macht. Doch Nepal ist nicht so korrumpiert wie Thailand. Es gibt keinen Sextourismus, keine echte Infrastruktur, kein „Hello my friend“ an jeder Ecke. Alle Touristen sind Trekker oder Hippies. Die, die sich stumpf im Style fallen lassen, und ein paar, die das Zen im Herzen tragen. Das könnte anders sein, hätte es nicht vor vier Jahren dieses Drama gegeben.
Zur Geschichte: Unter dem Druck von Studentenprotesten trifft König Birenda 1990 eine kluge Entscheidung: den Wandel zur konstitutionellen Monarchie. Das Volk wählt ein Parlament, das eine Regierung wählt. Doch elf Jahre später, am 1. Juni 2001, läuft Kronprinz Dipendra während eines Abendessens im Narayanhiti-Palast Amok. Betrunken und angerauscht vom Angel Dust streckt der in Eton ausgebildete Thronfolger und Waffennarr seinen Vater Birenda, seine Mutter die Queen, den jüngeren Bruder, die Schwester und fünf weitere Familienmitglieder nieder. Dann richtet er sich selbst mit einem Kopfschuss. Neuer König wird Gyanendra, jüngerer Bruder von Birenda, vorher ein umstrittener Geschäftsmann. Seine Regentschaft ist überschattet von der maoistischen Revolution.
Im Februar dieses Jahres setzt Gyanendra dann die gewählte Regierung ab und ernennt sich selbst zum Regierungschef auf Zeit. Letzte Etappe auf dem Weg zum Diktator. Ende November vereinbaren die sechs demokratischen Parteien, mit den Maoisten Wahlen zu einem verfassungsgebenden Konvent vorzubereiten. Zurzeit ist alles im Dazwischen. Was wirklich passiert, hängt vor allem von Indien, China und den USA ab, die das Land als Stellvertreter-Spielfeld für ihre Auseinandersetzungen und Interessen nutzen.
Das ist die Situation heute. Und sie ist auch so: Bei Pilgrim Books, dem größten Buchladen der Stadt, hängt noch immer: „Missing Sabine Grüneklee“. Schaue so rum, aber kann mich nicht auf die Buchstaben konzentrieren, die flimmern im Fieber. Neben den internationalen Zeitschriften in der Recommended Section liegt ein großer Stapel „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Die Ausgabe ist dick, aber leicht, und ich weiß nicht warum, aber stehe dann mit diesem Buch und einer eingeschweißten Brigitte an der Kasse. Hitler kostet ungefähr 3 Euro, halb so viel wie Brigitte, und der Junge packt alles in eine schwarze Papiertasche, und als er mir die überreicht, berührt seine Hand die meine eine Sekunde zu lang, und ich merke, dass ich ganz nass geschwitzt bin, und draußen an der Luft sehe ich, was auf der Tüte steht: „When you sell a man a book – you sell him a whole new life“. Jetzt wäre es schön, Fleetwood Mac zu hören, aber die spielen von nirgendwoher. Stoppe eins dieser kleinen weißen Taxis. Der Fahrer, junger Typ in roter Adidas-Trainingshose, höchstens 16, fährt mich zum Boudha-Tempel. Am anderen Ende der Stadt, einer der heiligsten „Om“-Orte außerhalb Tibets. Es dauert ewig, durch schmale Straßen, bergauf und plötzlich über den Bagmati-Fluss. Fahren ist Kampf, der dritte Gang die Hupe. Aus den kleinen Boxen scheppert ohne Unterlass dieser dunkle, bekannte Sound, den ich aber nicht zuordnen kann.
Irgendwann wird es breiter, Ausfallstraße. Ich sehe mehrere Kinder sterben. Aber sie stehen einfach ewig zwischen den Autos im sinnlosen Versuch, die andere Seite zu erreichen. Als wir da sind, frage ich den Jungen noch nach der Musik, aber es ist Radio, und er weiß auch nicht.
Zum „Om“-Ort geht es zwischen Häusern eine schmale Gasse hinauf. Ins Bild rückt eine gewaltige Stulpa, das ist so ein tortenartiger weißer Steinberg, auf dessen Spitze ein goldenes Gesicht thront. Bunte Gebetsfahnen spannen sich vom Boden dort hinauf. Aus Öffnungen im Boden dampft es, riecht Marihuana-verwandt. Ein Sog, in den die Beine sogleich gezogen werden. Im Uhrzeigersinn eilen spirituell Erfasste um die Stulpa. Sie laufen schnellen Schritts, murmeln Verse, beten. Kleine Buddhisten mit rasierten Köpfen in dunkelroten Roben drehen die heiligen goldenen Räder, die in die Stulpa eingebaut sind, und anscheinend geht das Leben und alles weiter, solange sich nur diese drehen.
Durch einen schmalen Eingang führen Treppen hinauf auf die Stulpa. Es gibt drei Ebenen, auf denen Menschen sitzen, einige Paare auch. Alles ist ziemlich schön. Da so zu sitzen und ins Abendrot zu schauen, das an einigen Stellen durch den dicken Dunst bricht. Und ich glaube, dieser Moment könnte mir etwas bedeuten, und hoffe, er speichert sich in den Synapsen und bleibt da eine Weile. Erschrecke dann aber, weil ich bemerke, dass meine Terminators kaputt gehen. Das Leder der Nikes löst sich an den Seiten von der Sohle. Schlagartig traurig macht mich das, weil die so viel mitgemacht haben, mich gerettet haben, als ich in Bangkok endlos durch den Regen und in Kabul rennen musste und weil ich die praktisch ein Jahr lang, manchmal auch beim Schlafen, nicht ausgezogen habe.
Aber es ist nicht nur Sentimentalität, sondern auch ein böses Omen, weil Schuhe, die Verbindung zum Boden, doch das wichtigste und heiligste Stück Kleidung am Körper sind. Sitze dann so da, es ist fast ganz dunkel und ich merke, dass ich weine.
Würde jetzt gerne irgendwohin gehen, aber wohin? Im Casino ist alles gewonnen und verloren, Catherine ist zurück nach Indien, neue Traveller-Bekanntschaften sind doch die alten, und ich denke tatsächlich kurz an den Flughafen. Aber dann noch mal gefangen, sitze ich in einem der um die Stulpa stehenden Häuser, die durchaus für Touristen angelegt sind, an einem Internetcomputer und klicke rum. Gebe „Sabine Grüneklee“ bei Google ein und finde eine Webseite (www.hasenfus.com/sabine), die ihre Schwester und Freunde eingerichtet haben (siehe Kasten). Inzwischen wurde in einem Park ein blutiger Bürstenhalter, Strickjacke und Haarspange der 31-Jährigen gefunden. Das ist leider ziemlich eindeutig. Die Münchner Mordkommission fliegt mit Spürhunden ein.
Es ist nicht der einzige Fall, drei Wochen zuvor verschwand in demselben Park eine 30 Jahre alte Französin. Vor einigen Tagen wurde ein Pilot der Swiss-Air tot in seinem Hotelzimmer gefunden. Was ist das denn für eine Serie? Copykill? In den Siebzigern folgte Charles Sobhraj, vietnamesische Mutter, französischer Adoptivvater, dem Hippie-Trail. Als charmanter angeblicher Drogenhändler erwarb er sich das Vertrauen gutgläubiger Hippie-Mädchen, die er dann umbrachte. Das brachte ihm Starstatus und 15 Millionen für die Filmrechte ein.
Was Sabine mit dem fröhlichen Wald-und-Wiesen-Namen wohl in Nepal gesucht hat? Da ist die Information: Sie wollte sich mit ihrem australischen Boyfriend treffen. Der Rest sind Vermutungen. Auf einer alten Internetseite des Magazin Focus gibt sie als Mitarbeiterin der „Personalschmiede von Siemens“ Auskunft zur Urlaubsregelung des Konzerns. Lese das, während von irgendwoher wieder diese Musik spielt, und alles klingt so unglaublich traurig, und ich merke, dass die nächste Fieberwelle kommt, und da steht immer noch die Papiertasche mit dem Hitler-Buch und der Brigitte, und ich rauche die 41. Zigarette.
Über der Straße ein Triptychon: drei Metzgereien nebeneinander, die Ware liegt auf Holzbrettern, abgetrennte Häupter, verdrehte Mägen, Lunge, Herz, Lamm-Hinterteile, Oberschenkelknochen in die Höh’. Im Laden links zwei Jungs mit Goldketten, die sofort prima Chancen bei Pop Idol hätten, in der Mitte eine dickliche Mutter, rechts ein kleines Mädchen mit Blume im Haar. Die Augen in dem toten Schädel, der mal zu einem Tier gehörte, sind ganz hellblau, nicht verdreht, geradeaus. Vorne stehen die lebendigen Lämmer, angebunden starren sie in ihr Schicksal. Das Mädchen mit der Blume im Haar schaut abwesend, durch ihre kleine Hand, als Faust gehalten, drückt sich eine Gallenblase – flutsch, flutsch – hoch und runter. Mir wird ganz schlecht, und das, was irgendwann mal Essen war und jetzt giftig schmeckt, würgt sich raus, und eins der Lämmer beginnt sogleich an dem grünlichen Schleim zu schlecken.
Da scheint es ein großes Glück, dass ein paar Schritte weiter zwei Deutsche sitzen, die mich aus ihrer Whiskyflasche trinken lassen. Aus einer Tonne brennt ein Feuer, und um Heinz und Inge, wie die beiden genannt werden wollen, lagert sich ein halbes Dutzend Schmutzis. Heinz war mal 68er, dann Kraftfahrer, und jetzt ist er halt hier mit seiner Inge. Die raucht schlanke Joints, und vor ihr liegt ein Plastikbecher, aus dem sie mit einem erhitzten Messer Opium kratzt. Das Elend der Welt wird diskutiert, die Stichwörter Hans-Böckler-Stiftung, Westend und Patti Hearst fallen. Irgendwann fragt Heinz nach der Bundesliga. Inge ist nach hinten gesunken. Von irgendwoher klingt wieder diese düstere Musik, und ich würde mir so wünschen, dass jetzt einfach Fleetwood Mac spielt, „Tell me lies“ vielleicht. Aber es geschieht nicht.
Laufe weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und lasse die Tüte aus der Buchhandlung bei Heinz und Inge stehen, die noch etwas rufen, aber der Lärm der Straße verschluckt es. Ein Taxi hält, ich sage: „Just drive please.“
In der Dämmerung rauscht alles vorbei, die Jungs auf der Honda Hero, die von dem Militärjeep gestoppt wurden, und die Familie am Straßenrand, die stehen bleibt und schaut.
Da merke ich auf einmal, was hier die ganze Zeit läuft. Es ist „The Dark Side of the Moon“, Pink Floyd. Und das ist wirklich rätselhaft, denn der Mond ist gar nicht zu sehen.