: Adventsmeditation
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Am dritten Advent blieb er stehen. Unter den Linden. Tausend Lichter in den Bäumen und hinten ein Hupchor. Viermaliges Drehen des Zündschlüssels half, aber an der nächsten Ampel dasselbe. Licht aus, drehen, weiter. Sechs, sieben Mal ging es gut, dann versperrte der Wagen in der Kantstraße den Taxen die Ausfahrt. Das Hupen war sehr böse, und den Schlüssel musste ich schon acht Mal drehen. Vierhundert Meter weiter zog ich ihn in eine Parkbucht. Ihn, den Mercedes. Sechzehn Jahre, hundertzweiundneunzigtausend Kilometer. Eine Ahnung von Abschiedsschmerz, als ich die Tür abschloss. Kann alles Mögliche sein, sagte der Chef der Werkstatt; was er vermutete, klang zu teuer, um noch einmal TÜV-Roulette zu spielen – aber das war erst am nächsten Morgen.
Ich saß im „Lentz“ mit einer heißen Zitrone und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), meine Nerven zu beruhigen. Mit Thomas Schmid. Ja, der ehemalige Opel-Kämpfer, den lese ich immer gern, weil er meine Erwartungen nie enttäuscht. Man braucht ja Konstanten im Leben. „Es ist Zeit, dass das ein Ende hat“, schrieb er über die „verbitterte Tirade“ Harold Pinters, der in seinem Stockholmer Diskurs „kindliche Legenden“ über die Unbelehrbarkeit von Politikern erzählt und im Gestus „marxistisch-leninistischer Flugblätter“ Behauptungen aufgestellt habe wie diese: „es sei unabdingbar (für die Macht), dass die Menschen unwissend bleiben“.
Es ist Zeit, dass das ein Ende hat – nicht nur mit dem moribunden Nobelpreisträger, sondern mit allen Intellektuellen, „von Pablo Neruda bis Stephan Hermlin, von Sartre bis Grass“, ja, mehr noch, mit der ganzen Gattung Kritiker, die mit angemaßter höherer Einsichtskraft und „identifizierungssüchtiger Opfersuche“ die „Welt nur in den Lettern des sozialen Alphabets buchstabiert“ und „aus Angst vor der Wirklichkeit … durch beschwörende Wiederholungen … und Flucht in Gemeinplätze eine Mauer des Misstrauens um sich baut“.
Es ist Zeit, dass das ein Ende hat. Woher der Hauch von Traurigkeit? War es die heiße Zitrone, war es die Erinnerung an die alte Wagenbach-Reihe des FAS-Politikchefs, in der er die ökosoziale Revolte besang oder die „befreiende Erfahrung“ der Turiner Fiat-Arbeiter, die dem „Kapital ein Stück despotischer Verfügungsgewalt“ über ihr Leben entzogen hatten? Etwa zu der Zeit, als mein Auto seine erste Zulassung erhielt. War es der Schmerz über den verlorenen Mercedes? „Keine Angst vor der Wirklichkeit. Keine Sentimentalitäten“, dachte ich und blätterte weiter.
Eine winzige Meldung kündete von zweiunddreißigtausend Entlassungen bei der Telekom, und unter einem bunten Foto mit Blaumännern stand, bei Mercedes könnten jetzt „die Älteren ein gutes Geschäft“ machen. Achttausendfünfhundert Stellen werden gestrichen. Der Weltkonzern mit 6 Milliarden Jahresgewinn zeigt der Gesellschaft, was Betriebsvereinbarungen über sichere Arbeitsplätze wert sind. Mercedes „spendiert“ 950 Millionen, um den Shareholder-Value zu erhöhen. Wer vor Weihnachten geht, kriegt einen „Turbo-Zuschlag“ von 25.000 Euro. Bei der Telekom, deren Gewinn in diesem Jahr bei 5 Milliarden liegt, werden gar 3,3 Milliarden in die Straffung der „Wertschöpfungskette“ investiert.
Die Kellnerin brachte einen Grog, am Nebentisch redeten solvente Senioren darüber, wie man Rechnungen für Puddingformen und Korkenzieher beim Finanzamt einreicht, ich dachte an mein Auto und entnahm einer Grafik, dass nur sechs Prozent der Unterdreißigjährigen ARD sehen. Vor fünfzehn Jahren waren es noch dreimal so viel, und beim ZDF sind es noch viel weniger.
Die Experten meinen, das werde noch viel schlimmer werden, die Presseclub-Kunden sind schon jetzt 67 im Durchschnitt, die von Harald Schmidt 52. Ich blätterte noch einmal zurück zu Thomas Schmid. Erstaunliche Sätze: „Im Grunde geht es einfach darum, dass der Intellektuelle Bürger wird. Wie Krethi und Plethi.“ Nicht mehr mit „groben Weisheiten“ miese Laune macht, mit Gemeinplätzen wie dem, dass „anonyme Mächte“ die Oberhand über unsere Leben gewonnen hätten oder die Verblödung der Menschen von den Mächtigen gewollt sei – das sei doch nichts als „Angst vor der Wirklichkeit“.
Ach, die „Wirklichkeit“! Das Wort ist bei früh gewendeten Linken neuerdings ebenso beliebt wie bei Wirtschaftsführern und Fernsehdenkern, die Krethi wie Plethi erklären, dass man die Steuern senken muss, um Wachstum zu stimulieren, die Löhne, um Wohlstand zu schaffen, den Sozialstaat schleifen, um Sicherheit zu garantieren. Die „Wirklichkeit“ sei eben ungerecht, sagt beispielsweise Meinhard Miegel – in einer alten Welt, die ich immer auf dem Rücksitz meines alten Mercedes archiviere. Ach! Ungerechtigkeit beginne doch „schon im Moment der Zeugung“. Die „Wirklichkeit“ sei, dass „die Wirklichkeit die Politik gestaltet und nicht die Politik die Wirklichkeit“. Die Wirklichkeit sei, dass die Arbeitsplätze jetzt eben nach Polen oder Bangladesch gehen, die Wirklichkeit sei, dass es eben Starke gibt und Schwache.
Dieses Weltbild von Krethi und Plethi ist dann irgendwie Wort für Wort in die Antrittsrede unserer Kanzlerin gewandert, die kurz vorm zweiten Advent um ein „Herz für mehr Leistung“ bat und um „Dankbarkeit statt Neid“ für die Starken, damit sie auch weiterhin den Schwachen helfen. Der Staat könne ja keine Arbeitsplätze schaffen, sondern nur die Rahmenbedingungen für die Starken verbessern. Die „Wirklichkeit“ ist auch, dass die Mercedes-Arbeiter sich auszahlen lassen werden, angesichts der „Drohung“, im Weigerungsfall gebe es dann eben „weniger Lohn für weniger Arbeit für alle“. Sprich: Arbeitszeitverkürzung, Zeit statt Geld. Das war einmal eine große Gewerkschaftsidee, mit deren Propagierung der junge Thomas Schmid ganze Taschenbuchvorworte füllte.
Die Wirklichkeit, das ist das, was von selbst passiert, wenn die Theologie der Alternativlosigkeit, zwischen den Polen Marktradikalismus und Sozialdarwinismus, die Gehirne von Krethi und Plethi ergriffen hat: „planmäßige Ausbeutung der Erde, Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts, abnehmende Zahl der Kapitalmagnaten, wachsende Masse des Elends, des Drucks, der Ausbeutung“ (MEW 23:790).
Der dritte Advent neigte sich seinem Ende zu, den Rückweg machte ich mit dem Bus. Ging eigentlich auch. Es ist Zeit, dass das ein Ende hat, dachte ich. Der FAS-Satz hatte sich in mir festgesetzt. Es wird erst enden, „wenn der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“, meldete sich Max Weber aus meinem intellektuellen Langzeitgedächtnis. Es sei denn, tiefe existenzielle Erschütterungen vieler Einzelner führen vorher zu einer Wende. So etwas wie der Verlust eines lang bewohnten Mercedes und die Lektüre von Thomas Schmid.
Morgen, so beschloss ich, morgen werde ich ihn verkaufen und mit dem Erlös ein paar Dutzend Exemplare der wichtigsten politischen Bücher des Jahres, Hermann Scheers „Energieautonomie“ und Elmar Altvaters „Das Ende des Kapitalismus“, an vielversprechende junge Menschen in meiner Bekanntschaft verschenken. Und Fahrrad fahren. Unter den Linden brannten noch die Weihnachtslichter mit der Sponsorenschrift: „Die Linden verbinden. Vattenfall und Vodafone.“
Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin