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Archiv-Artikel

Bürgern wird der Popo gezeigt

EAST SIDE GALLERY FÄLLT

Jener Unverbindlichkeitspassus ist eine der blödsinnigsten Regelungen in der Stadt

Am Mittwochvormittag stehen sie wieder entlang der East Side Gallery: ein paar empörte Aktivisten von „Mediaspree versenken!“. Versprengte Reste der 250 Polizisten, die um 5 Uhr morgens angerückt waren. Touristen mit Handykameras in der Hand und offenen Mündern im Gesicht. Und Dutzende von Journalisten.

Die bunt bemalte East Side Gallery hat ein neues Loch. Auch in der Vergangenheit hat man hier Schneisen geschlagen, dank derer dann auf dem Uferstreifen eine Bootsanlegestelle, ein Kiosk, Hostels und eine Strandbar direkt zu erreichen oder auch die Mehrzweckhalle am Ostbahnhof besser zu sehen waren. Das neue Loch ist 6,10 Meter breit, diesmal geht es um eine Baustellenzufahrt für zwei große, teure Häuser, die Investoren bauen wollen und die seit Wochen die Gemüter in der Stadt erhitzen. Dem neuen Durchbruch in der Mauer folgte erwartungsgemäß die Wiederaufnahme des Schulddiskurses: die bösen Bauinvestoren, der unfähige Regierende Bürgermeister, der verplante Bezirksbürgermeister, die fortschrittsfeindlichen Demonstranten.

Wenn es nur um den sechsten Durchbruch der East Side Gallery ginge. Oder nur um ein weiteres hochpreisiges Eigentumswohnungshaus. Doch es geht eigentlich um das Bezirksverwaltungsgesetz. Dieses sagt: Ein Bürgerbegehren auf Bezirksebene, dem es um Baurecht und Stadtplanung geht, hat lediglich „empfehlende oder ersuchende Wirkung“. Wie eben bei „Mediaspree versenken!“. Jener Unverbindlichkeitspassus im Bezirksverwaltungsgesetz ist eine der blödsinnigsten Regelungen in dieser Stadt. Denn die ist voll von Menschen, die an ihrer Gestaltung mitzuwirken versuchen, darauf viel Zeit und Energie verwenden, obwohl sie nicht in irgendein Parlament oder eine Regierung gewählt wurden. Das Spreeufer ist dafür beileibe nicht das einzige Beispiel.

Es muss ja keiner einer Meinung sein mit „Mediaspree versenken!“, mit David Hasselhoff und all den Clubbetreibern, die hinter dem East-Side-Gallery-Protest stecken. Doch Bürgerbeteiligung, Graswurzelengagement und direkter Demokratie so den Allerwertesten zu zeigen, wie es die Sozis seit Jahren tun, das ist nicht nur herablassend. Das ist einfach nur blöd, denn es ignoriert Wissen und Willen vieler Betroffener und führt zu Konflikten statt zu Kompromissen.

SEBASTIAN PUSCHNER