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Archiv-Artikel

BERNHARD GESSLER STETHOSKOP Warum so empfindlich, Herr Doktor?

Alles, nur nicht ins Krankenhaus!“ Diese Leier kann ich schier nicht mehr hören. Die letzte Patientin, die das zu mir sagte, erhielt – ich gestehe: gegen den ärztlichen Verhaltenskodex des Gleichmuts und der Empathie verstoßend – eine pampige Antwort. Warum so empfindlich, Herr Doktor?

Ich habe keine Studie darüber gelesen, aber die Empirie des Praxisalltags ist eindeutig: Die große Mehrheit der alten Menschen in Deutschland hasst Krankenhäuser, genauer: die Aussicht, dort liegen zu müssen. Ich habe meine alten PatientInnen nie systematisch befragt, was ihre Gründe dafür sind. Aber es scheint der Common Sense der Altersgruppe jenseits des 75. Lebensjahres zu sein, dass der Aufenthalt als Patient im Krankenhaus unerträglich ist. So unerträglich, dass ein Patient buchstäblich lieber stirbt, als in einem solchen Etablissement Quartier zu beziehen.

Einerseits kann ich sie gut verstehen. Mit der Einweisung reiße ich einen alten, kranken Menschen heraus aus seiner gewohnten häuslichen Umgebung, aus der Aufteilung der persönlichen Dinge, aus den eingespielten Tagesabläufen und Gedanken, aus den aktuellen Zukunftsplänen und Kontakten mit vertrauten Menschen. Und ich verpflanze ihn – für einen nicht klar absehbaren Zeitraum – in die Anonymität einer Krankenstation, in das stressige Klima eines Mehrbettzimmers mit Gemeinschaftsklo, in die Aufhebung der Privatsphäre, in die Fremdbestimmung und Entmündigung im Klinikalltag, in unausweichliche Kontakte mit einer Vielzahl von fremden Personen, in die Konfrontation mit Krankheit, Leid und Sterben. Das kann alles schrecklich nerven, verwirren, wehtun und Angst machen.

Andererseits stehe ich vor einem Dilemma. Bei vielen Erkrankungen stößt die ambulante Medizin schnell an ihre Grenzen – logistische, diagnostische, pflegerische, therapeutische Grenzen. Was man in fünf Tagen Krankenhaus organisieren, erkennen, lindern und eventuell heilen kann, schafft man im ambulanten Bereich meist nicht in fünf Wochen. Und welche Konsequenzen hat denn die einsame, heroisch-resignative Entscheidung des Kranken gegen einen Krankenhausaufenthalt? Nicht nur für den Kranken selbst, auch für die überforderten Pflegenden, die ängstlichen Angehörigen, den gestressten Hausarzt? Was bedeutet der verständliche Wunsch, zu Hause geheilt zu werden oder zu Hause sterben zu können, ganz konkret?

Kaum einer ist frei von diesem Wunschbild – auch nicht die Profis im Gesundheitswesen. Aber meist scheint es mir ein romantisches Bild, ein Idealbild zu sein, an dem am Ende in der Realität alle Beteiligten scheitern können. Der große Erich Kästner dichtete: Es gibt nichts Gutes außer: man tut es. Die alten Ärzte sagten: Tu nichts Gutes – und es folgt nichts Böses. Das ist krass zynisch, aber nicht selten auch realistisch.

Der Autor ist Internist in Karlsruhe Foto: privat