piwik no script img

Archiv-Artikel

Als Nervtöten noch half

Diese Musik funktioniert auch zwanzig Jahre später noch wie ein Schwangerschaftstest: Mehrere Platten präsentieren die Musikerinnen des Postpunk, die historischen Vorläuferinnen der Riot Grrls

VON KLAUS WALTER

Distance makes the heart grow fonder, sagt die Engländerin und meint neben der räumlichen auch die zeitliche Distanz, die unsere Herzen milder stimmt. Im Rückblick verklärt sich das Malheur zur Katastrophe, der kleine Erfolg zur großen Sensation. Wenn retrospektiv eine ganze Epoche zum „überschäumenden Moment“ oder zur „Boom Period“ hochgesungen wird, dann ist Vorsicht geboten. Wie die allfälligen Revivals gewisser Stile gehorcht auch die Wiederentdeckung angeblich besonders produktiver Pop-Epochen den Zyklen des Marktes. Wenn ein Stil sich länger als eine Saison am Markt hält, dann tritt die Logik des Recyclings in Kraft.

Nehmen wir die auch untereinander kommunizierenden, zeitgenössischen Musikstile Electro-Clash und Punkfunk. Nehmen wir als Protagonistinnen des (female) Electro-Clash Peaches, Kanadierin in Berlin, und das Drei-Frauen-drei-Herkunftsländer-Trio Chicks on Speed. Nehmen wir als Protagonisten des Punkfunk die New Yorker Bandprojekte The Rapture und LCD Soundsystem. Alle sind schon eine Weile dabei und haben sich einen Trademark-Sound zugelegt, die Frauen dazu starke Trademark-Images.

In der Logik des Recyclings stellt sich die Frage nach historischen Vorbildern. Nach Spuren von Electro-Clash und Punkfunk in der Popgeschichte, nach Rollenmodellen für die performativen Offensiven, mit denen Peaches und Chicks on Speed die Bildfläche betraten. Der Markt beantwortet diese Fragen mit den Produkten, um die es hier geht. Drei historisch-kritische CD-Editionen, die belegen sollen, dass die Postpunk-Ära ein goldenes Zeitalter des Pop war, eine kreative Explosion, getragen von der „verrückten eklektischen Energie dieses überschäumenden Moments“. So formuliert es Vivien Goldman, selbst lebendiger Beweis ihrer These, wechselte sie doch mittendrin im „überschäumenden Moment“ die Seiten: aus der Musikjournalistin Goldman wurde – do it yourself – die Sängerin der New-Wave-Band The Flying Lizards.

Goldmans Text begleitet das Album „Grlz – Women ahead of their time“, eine Sammlung von zwölf Songs aus den Jahren 1979 bis 1984. Alle kommen aus dem weiten Feld des Postpunk, alle featuren Frauen in maßgeblichen Rollen. Den Link in die Gegenwart setzen Delta 5. Deren „Mind your own business“ coverten Chicks on Speed ebenso demonstrativ wie andere Songs von Frauen(dominierten)-Bands dieser Ära, Malaria oder Tom Tom Club. Weitere Grlz sind die junge Neneh Cherry als Sängerin der Band Rip, Rig & Panic, Solistinnen wie Anna Domino oder reine Frauenbands wie die Slits. Die waren nicht nur einflussreich, die hatten auch einen sprechenden Namen: Slits heißt Schlitze und siedelt in der lingualen Nachbarschaft zu Sluts – Schlampen. Frauen ihrer Zeit voraus! Behauptet der Untertitel.

Frauen ihrer Zeit voraus

Der onomatopoetisch nach Katzenfauchen klingende Obertitel „Grlz“ mit seiner punkesk verkrüppelten Schreibweise beansprucht die Urheberschaft für eine Bewegung, die erst ein Jahrzehnt später in den USA entstehen sollte: Unter dem Namen Rrriot Grrrls taten sich Ende der 80er musikalisch wie geschlechterpolitisch gleichermaßen angriffslustige Bands zusammen. Auch sie gaben sich sprechende Namen wie Dickless oder Bikini Kill. Dass Courtney Love ihre Band Hole (Loch) nannte, darf getrost als Spätfolge der Slits verstanden werden. Erniedrigung kenntlich machen, Beleidigung zum Nom de Guerre machen.

Musikalisch ist „Grlz“ getragen vom Willen zur weiblichen Expansion: „This is the sound of us stretching out“, schreibt Vivien Goldman und zitiert den Albumauftakt von Maximum Joy mit seiner programmatischen Forderung: Stretch it to the limit! Das mit dem bis ans Limit gehen war wörtlich zu nehmen: an die Grenzen der musikalischen (Punk-)Konvention oder darüber hinaus in Richtung Funk, Jazz, Afrika, Jamaika, aber auch: an die Grenzen der Nerven. Bei vielen Songs hat sich bis heute ein spitzeckiger Nerv-Faktor gehalten, der funktioniert wie ein Schwangerschaftstest: wenn sich das Gesicht des Hörers auf eine bestimmte Art verfärbt oder verzerrt, dann ist klar, dass er das Anliegen der Frau im Prinzip so ganz in Ordnung findet, die ostentative Hysterie, mit der es vorgetragen wird, aber nicht sein muss, wenn’s nach ihm geht. Oder nach ihr.

Der Schlabberquotient

Kompiliert wurde das „Grlz“-Album übrigens von zwei Männern aus Deutschland. HP Eckardt ist einer davon und er versichert, feministische Motive hätten keine Rolle gespielt: „Frauenmusik zeichnet sich durch einen extrem hohen Schlabberquotienten aus, kommt nicht auf den Punkt.“ Das eigenartige Wort „Schlabberquotient“ verweist auf einen Treppenwitz der Ungleichzeitigkeit und resultiert aus einem hartnäckigen Missverständnis der deutschen Punk-Rezeption: Wie in England positionierte sich Punk auch in der BRD explizit gegen die dominierende Subkultur der Hippies, die Mitte der Siebzigerjahre ihre subversive Kraft eingebüßt hatte und sich bald als Humus für Grüne Milieus entpuppen sollte. Der Ablehnung alles Hippiesken fiel auch der Feminismus zum Opfer. Bis heute kleiden alternde Punkrocker ihre (nicht immer nur) spielerische Misogynie in längst überholte Stereotype: Feministinnen kommen aus der Alice-Schwarzer-&-Bettina-Wegner-School of wallende Gewänder, tragen Birkenstock und lila Latzhosen.

Der Schlabberquotient. Dieses Ressentiment ermöglichte es deutschen Punks, feministische Motive und Strategien in der Kunst jener Frauen zu ignorieren, die damals ahead of their time waren. Bands wie die Slits oder die Raincoats, Frauen wie Lydia Lunch oder Poly Styrene (X-Ray Spex) bedienten sich der Techniken des Punk, nutzten Schockästhetik und performative Selbstentblößung, um die von weiten Hippieklamotten notdürftig camouflierten Patriarchalverhältnisse anzugreifen.

Jahre später fand sich dafür der schwammige Begriff Postfeminismus. Dank „Grlz“ können sich jetzt auch Altpunks damit anfreunden. In seiner zu Recht hochgelobten Postpunk-Chronik „Rip it up and start again“ bezeichnet der englische Popkritiker Simon Reynolds die Ära von 1978 bis 1984 als „boom period for idiosyncratic female expression“. Reynolds’ Buch flankiert die Aufwertung der Postpunkära zum L’Age d’Or. Selbstverständlich bekommt die Bristol-Szene ihr Kapitel, also auch Maximum Joy und die Pop Group.

Maximum Joy waren eine von mehreren Gruppen, die aus dem Split der Popgroup hervorgingen. Die Popgroup war, nun ja, sowas wie die Mutter aller Schlachten, die ausgetragen wurden auf dem Feld zwischen Dilettantismus, Selbstermächtigung, radikaler Liebe zu schwarzen Musiken, Babylonmussbrennen-Parolendresch und jede Menge Speed für Körper und Geist. Sie waren super und – siehe oben – supernervig. Zu brachialen Bastarden aus Punk, Funk, Jazz und Dub brüllte der Gesangsautodidakt Mark Stewart Slogans vom Schlage: „We are all prostitutes (everyone has their price)“.

Nach der Logik des Recyclings verkaufen sich die alten Platten heute besser denn je, meist an Leute, die damals noch gar nicht auf der Welt waren. Die stoßen über das New Yorker Punkfunk-Revival auf die britischen Urheber, über Rapture und Radio 4 zur Gang of 4, über LCD und DFA zur Pop Group. Jetzt kann man den Mark-Stewart-Haltbarkeitstest machen mit einer überfälligen Werkschau, die dankenswerter Weise nicht in der Vergangenheit endet, daher der Titel „Kiss the future“. Neben den unvermindert erschütternden Popgroup-Tracks und ebenso wuchtigen Aufnahmen aus seiner Zeit mit der Maffia (das war niemand anders als die Rhythmusgruppe der Sugarhill Gang!) gibt es auch neue Musik, darunter eine Kollaboration mit The Bug.

Hinter dem Pseudonym (Bug = Wanze, Virus, to bug = nervtöten) steckt Kevin Martin. Bevor er in Richtung Ragga abbog, gab Martin als Techno Animal das wilde Tier des Industrial-Electro-Funk, war also der ideale Partner für Stewart. Der sucht ständig PartnerInnen auf der Punk-’n’-Reggae-Achse. Gerade arbeitet er an einem Duett mit Ari Up. Mit der Slits-Gründerin hatte er schon bei den New Age Steppers gespielt, auch von ihr gibt es ein neues Album. „Ich bin gerade in einem Studio in Bristol mit einer Toningenieurin, wir haben immer gerne mit Girls gearbeitet. In allen Bands in Bristol waren genauso viele Girls wie Boys.“

Proper England!

Das war seine Antwort auf die Geschlechterfrage: Konnten Frauen die demokratische Ermächtigung der Do-it-yourself-Ethik des (Post)Punk besonders gut nutzen? Das war die Frage, aber Stewart antwortet, als sei das gestern gewesen. Punk sprach zum jungen Mark und sagte: You can do it! Diese Chance will sich der Mittvierziger nicht nehmen lassen, auch nicht von Nike. Mit einer robusten Emphase, nur früh Vergreiste würden es Naivität nennen, hält er fest am Kontinuum, an seiner Idee von Musik als sozialer und politischer Praxis. „Die wichtigste politische Musik kommt derzeit von den Indian-Ragga-Soundsystems aus London und Manchester. Sie heißt Desi, was in Indien ‚Homeland‘ heißt. Ein fantastischer Mix aus Indian, Ragga und HipHop, du hörst das überall, Punjabi MC oder die Punjabi Hit Squad. Sogar Jay-Z und Busta Rhymes besorgen sich Desi-Remixe, wie sie vor Jahren Ragga-Riddims von Lenky und Sean Paul benutzt haben. Das politische an Desi ist, dass es working class kids sind, die erste wirkliche street culture. Punk war ein bisschen Art School, aber das ist eine richtige Mixtur, proper England. Aber die englische Musikpresse nimmt das nicht zur Kenntnis.“ Proper England!

Für Mark Stewart, aufgewachsen in Bristol zwischen Funk- Clubs und Reggae-Soundsystems, repräsentiert der Mix aus Desi und Ragga das eigentliche (proper) postkoloniale England, während die Musikpresse solche Phänomene ignoriert und sich ihr eigentliches England (re)konstruiert. Ein weißes Rock-England. Warum ignorieren die Journalisten das? „Sie gehen nicht an solche Orte!“ Stewart geht an solche Orte, und so kombiniert er zwei eigentlich gegensätzliche Künstlermodelle: hier der berserkerhafte, fundamentaloppositionelle Auteur, dort der postmoderne Bricoleur, hier der Fels in der Brandung, dort der vielseitige Kollaborateur. Ob er ein Ein-Mann-Melting-Pot sei, frage ich ihn am Ende des Telefonats. Die Antwort ist ein dröhnendes Lachen: „Hahaha, darling, höhöhö, thank you, mate!“

„Grlz – Women ahead of their time“, Maximum Joy: „Unlimited 1979 – 1983“ (beide Crippled Dick Hot Wax/Alive), Mark Stewart: „Kiss The Future“ (Soul Jazz/Indigo)