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Archiv-Artikel

Straßburg stärkt Opfer von Polizeigewalt

ESTLAND Vier von sieben Klägern erhalten teilweise Recht nach Übergriffen in Polizeigewahrsam. Regierung soll ihnen Entschädigungen in fünfstelliger Höhe zahlen. Die eigene Justiz hatte sie ignoriert

STOCKHOLM taz | Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Estland zu einem Schadensersatz von rund 50.000 Euro verurteilt. Die Behandlung von vier Männern habe gegen deren Menschen- und Bürgerrechte verstoßen, urteilte das Gericht in Straßburg am 28. März. Es geht um die Proteste Ende April 2007 in Tallinn, nachdem die Behörden die Entfernung eines sowjetischen Ehrenmahls, des 2 Meter hohen Bronzesoldaten „Aljoscha“, aus dem Zentrum der Hauptstadt Estlands angeordnet hatten.

Im Zusammenhang mit den als „Bronzenächte“ bekannt gewordenen tagelangen Unruhen, bei denen es einen Toten und zahlreiche Verletzte gegeben hatte, waren über 1.000 Personen von der Polizei vorübergehend festgenommen worden – nicht nur Demonstranten, sondern auch Passanten. Das gilt nach Überzeugung des EGMR für die vier Personen, denen Estlands Regierung nun Schadensersatz zahlen muss.

2008 hatten sich insgesamt sieben Kläger an das Straßburger Gericht gewandt, nachdem sie mit ihren Beschwerden bei der estnischen Justiz kein Gehör gefunden hatten. Alle gaben an, festgenommen, brutal behandelt und teilweise körperlich misshandelt worden zu sein. Gegen diese Behandlung hatten die sieben – wie insgesamt auch fast 100 andere – anschließend Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft leitete aber entweder erst gar keine Ermittlungen ein oder stellte sie ein. Auch Beschwerden beim Justizkanzler und vor estnischen Gerichten waren erfolglos geblieben. Die Begründung: Ihre Festnahme und Behandlung habe sich im gesetzlich zulässigen Rahmen bewegt.

Der Menschenrechtsgerichtshof sieht das nun anders. Zwar wurden die Klagen von drei Klägern ganz, die der anderen teilweise zurückgewiesen. Erfolg hatte aber ein Kläger mit seinem Vortrag, die Polizei habe exzessive körperliche Gewalt gegen ihn ausgeübt. Ihm wurden 14.000 Euro Schadensersatz wegen Verstoß gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention – unmenschliche oder erniedrigende Behandlung – zugesprochen. Wegen Verstoßes gegen den gleichen Artikel aufgrund der nicht ordnungsgemäßen Untersuchung ihrer Beschwerden muss Estland drei weiteren Klägern je 11.000 Euro Schadensersatz plus Anwaltskosten zahlen.

Ein Sprecher des Außenministeriums in Tallinn erklärte, die Regierung werde innerhalb der dreimonatigen Rechtsmittelfrist prüfen, ob man Beschwerde einlegen werde. REINHARD WOLFF