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Archiv-Artikel

Augen zu und durch

AUS GOMA DOMINIC JOHNSON

Wenn man die Bergleute von Bibatama nach Kongos neuer Verfassung fragt, erntet man zunächst Schweigen. Dann verlegenes Gelächter. „Wir wissen ja gar nicht, was da drinsteht“, sagt schließlich einer. „Wie sollen wir wissen, wie wir abstimmen?“

Bibatama ist eine der größten Bergwerke Ostkongos. Tief im Gebirge des Masisi-Distrikts westlich der Provinzhauptstadt Goma schlängeln sich hier hellbraune Gruben zwischen grünen Hügeln entlang. Die Bergleute fördern Tantalerz für die globale Mobilfunkindustrie, dessen Abbau während des Kongokrieges Warlords reich machte. Ein Erdrutsch hat vor kurzem den produktivsten Teil der Mine begraben, und im Umland wächst erneut die Unsicherheit. Nicht Gesetze gelten hier, sondern Waffen. Eine neue Verfassung – was nützt die also?

„Die Verfassung legt klar und präzise fest, wie eine neue Demokratie in der Demokratischen Republik Kongo funktioniert“, erklärt dazu der „Kleine Verfassungsleitfaden“ der Wahlkommission, der dieser Tage in 500.000 Exemplaren im 60 Millionen Einwohner zählenden Kongo vertrieben wird. Die Abstimmung über die neue Verfassung am 18. Dezember stellt nach offizieller Darstellung die Krönung des Friedensprozesses dar, in dessen Verlauf die vorherigen Kriegsparteien 2003 eine gemeinsame Regierung bildeten. Von März bis Ende Juni 2006 sollen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in jeweils zwei Wahlgängen sowie Provinzwahlen stattfinden. Nach 45 Jahren ohne freie Wahlen können die Kongolesen jetzt also gleich sechsmal in sechs Monaten an die Urnen gehen.

Logistischer Kraftakt

„Wir sagen den Leuten, dass es eine Volksabstimmung über die Gesetze des Landes ist“, erklärt Jean-Pierre Kibaya, bei der Wahlkommission in der ostkongolesischen Provinzhauptstadt Goma für Wählererziehung zuständig. „Wir erklären ihnen: Wir brauchen eure Stimme. Wir befragen euch, damit ihr hinterher nicht sagen könnt, dass euch keiner gefragt hat.“

Allein logistisch ist dies ein unvorstellbarer Kraftakt. Ein Land von der Größe Westeuropas, dessen verschiedene Teile nur auf dem Luftweg miteinander verbunden sind, wo nach Jahren des Krieges mit Millionen Toten und Vertriebenen noch in weiten Landstrichen Chaos herrscht, wo fast die gesamte Bevölkerung in absoluter Armut lebt – da wird plötzlich eine Wahlserie in Gang gesetzt, die mit 274 Millionen Dollar ungefähr den Gegenwert des gesamten kongolesischen Volkseinkommens in der Zeitspanne der Wahlen kostet.

Die Verfassung an sich entspricht der eines modernen westlichen Rechtsstaates und enthält die populäre Neuerung, dass die Provinzen des Landes in Zukunft 40 Prozent ihrer Einnahmen behalten können – bisher floss immer alles nach Kinshasa und verschwand spurlos. Dies, so die Hoffnung der Verfassungsväter im kongolesischen Senat, sichert die Annahme des Textes.

Dafür tut Kongos Unabhängige Wahlkommission alles. Die Farbe für Ja ist Orange – so wie die Farbe der Wahlkommission und der zwischen Juni und November ausgegebenen Wählerausweise, deren Ausstellung vielerorts ein Grund zu wahrer Freude war, ein Akt staatlicher Anerkennung des einzelnen Bürgers nach Jahrzehnten der Entrechtung. Die Farbe für Nein ist Grau. Wem dürfte die Wahl da schwer fallen?

Erstaunlich vielen. Für die Verfassung trommelt die internationale Gemeinschaft sowie die amtierende Allparteienregierung der Warlords. Es gehe um Leben und Tod, drohen die Verfassungsbefürworter und warnen so vor dem nächsten Krieg, dass die Wahl nach hinten losgehen könnte, wie bei der französischen Volksabstimmung über die EU-Verfassung dieses Jahr.

Das Ja-Lager ist monolithisch, das Nein-Lager ist bunt – Oppositionsparteien, Freigeister, Exilgruppen, Nostalgiker vergangener Diktaturen. Und zwei der für die öffentliche Meinung im Kongo wichtigsten Gruppen beziehen gar nicht Stellung. Die größte zivile Oppositionspartei UDPS (Union für Demokratie und Sozialen Fortschritt) boykottiert den gesamten Wahlprozess. Die mächtige katholische Kirche wirbt für eine Wahlbeteiligung, gibt aber keine Empfehlung ab.

Wunsch nach Frieden

In Goma, der Stadt unter dem Vulkan mitten in Ostkongos ältestem Kriegsgebiet, tauchen bei Diskussionen mit Wählern immer wieder Grundsatzfragen auf, erzählt Jean-Pierre Kibaya von der Wahlkommission: „Wird es Frieden geben? Wird der Nationalitätenstreit enden? Was passiert mit der Armee, die immer die Leute belästigt? Wer bändigt die bewaffneten Gruppen?“

Während der Wählerregistrierung war Goma und das Umland relativ friedlich; seit Anfang Dezember nimmt die Gewalt wieder zu. Jeden Tag zirkulieren neue Horrorgeschichten: Ein UN-Fahrer wurde in seinem Haus von Soldaten per Kopfschuss getötet, weil er sein Handy nicht hergeben wollte. Ein Tutsi-Kuhhirte soll von Soldaten gezwungen worden sein, Nägel zu essen, weil man ihn der Spionage für Ruanda verdächtigte. Die Vergewaltigungsklinik der Stadt ist voll. Nach UN-Angaben geschehen in Nordkivu mit seinen 5 Millionen Einwohnern 25.000 sexuelle Kriegsverbrechen pro Jahr – 68 pro Tag.

Genau deswegen sehnen sich die Kongolesen nach einer neuen Ordnung. „Egal wie, die Wahlen müssen stattfinden, damit es einen legitimen Chef gibt“, erklärt Mauka Mathe Bulalo, Präsident der Baptistenkirche ECC in Goma. „Es muss jemand das Sagen haben. Jemand, der sagen kann: Wir bilden eine neue Armee, und dann gibt es eine neue Armee.“ Die ECC verteilt Comics, die darstellen, wie man wählt, wie der Verlierer dem Sieger gratuliert und wie demnächst glückliche Kongolesen in sauberen, modernen Städten flanieren.

Die Wahlkommission weiß es besser. „Die Verfassung ist kein Zauberstab“, sagt in Goma Jean-Pierre Kibaya. Wahlkommissionschef Apollinaire Malu-Malu erklärte jüngst in Brüssel: „Man darf nicht so tun, als würde die Wahl die Krise des Kongo lösen. Sie wird eine Zeit beenden, in der jeder politische Akteur in die Machtstrukturen eingebunden werden musste.“

Wahlen bedeuten, dass es anders als bisher Gewinner und Verlierer unter den Mächtigen geben wird. Und genau das birgt Gefahren. Mag sein, dass ein Nein zur Verfassung den Kongo in einen neuen Krieg führt. Aber ein Ja führt das Land nicht automatisch in einen neuen Frieden.

Angst vor Krieg

Denn der Schwachpunkt des gesamten Friedensprozesses ist, dass die früheren Bürgerkriegsarmeen größtenteils intakt sind, wenngleich weniger als stehende Truppen denn als informelle, abrufbare Reservistenverbände. Das Vorhaben, aus diesen Truppen noch vor den Wahlen eine geeinte Armee zusammenzuschmieden, ist gescheitert. Ursprünglich sollten von insgesamt geschätzt 350.000 früheren Bürgerkriegskämpfern des Kongo 120.000 als Kern der neuen Nationalarmee FARDC (Streitkräfte der Demokratischen Republik Kongo) aufgestellt werden. Dann wurde daraus 65.000 – 18 Brigaden. Bis heute gibt es erst sechs, und nur drei davon gelten als funktionsfähig. Die älteste, von Belgien ausgebildete Vorzeigebrigade der FARDC im nordöstlichen Distrikt Ituri gilt inzwischen als dermaßen kriminell, dass ihr Kommandant letzte Woche suspendiert wurde.

Im Ostkongo wächst der Verdacht, dass viele Warlords die FARDC als vorübergehende Gratisfortbildung für ihre Kämpfer ansehen. Desertierende Soldaten haben sich unter dem Kommando des flüchtigen Generals Laurent Nkunda in den Hügeln von Masisi niedergelassen und werben mit geschickter Diplomatie Unzufriedene an, von Ituri bis Katanga. Gerüchte machen die Runde, dass bei einem entsprechenden Signal komplette Einheiten zu ihnen stoßen könnten – aus allen Fraktionen.

Militäraktionen gegen die Wahlen plant Nkunda nach Auskunft von Vertrauten nicht. Das Kalkül: Bis zu den Wahlen verhält man sich ruhig. Nach erfolgreicher Wahl wird die internationale Gemeinschaft den Rückzug einleiten. Dann hat man freie Hand, Enttäuschten die Führung anzubieten.

Ein ähnliches Kalkül – Stillhalten bis zur Wahl, aber für danach alle Optionen offen halten – hört man aus sämtlichen politischen Lagern des Landes, auch von den ruandischen Hutu-Milizen FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas). UN-Angaben, deren Kämpfer hätten sich alle als kongolesische Wähler registrieren lassen, dementiert die Wahlkommission zwar empört. Sie bestätigt aber, dass die FDLR in einer Region selbst für die Sicherheit der Wählerregistrierung gesorgt habe – in Katoyi, im Süden der Masisi-Berge. „Sie haben unsere Mitarbeiter und unser Material bis zum Schluss bewacht“, sagt Kibaya. „Aber wir wissen nicht, was sie am 18. Dezember machen werden. Sie sind aggressiver geworden“.

Die internationale Gemeinschaft spielt mit. Wer die Wahlen nicht störe, werde auch nicht gestört, heißt es bei der UN-Mission (Monuc) in Goma. Die Staatengemeinschaft in Form der UNO hat ihre gesamte Glaubwürdigkeit im Kongo in den Friedensprozess investiert – sie will ihn nun auf dem Papier zu Ende führen, egal wie. Die Krise der Armee, die wachsende Korruption, die Häufung von Gewalt gegen Bürgerrechtler, die weitere Verarmung – all diese Entwicklungen werden zwar bedauert, aber nicht wirklich als Zeichen für Fehlentwicklungen gedeutet. Zuständig ist schließlich die nächste, gewählte Regierung.

Die Wahlen seien die „Exit Strategy“ der UNO, sagte Monuc-Chef William Swing bereits zu Beginn seiner Mission 2003. Kirchenvertreter Mauka bestätigt: „Im Namen des Friedens verschließen wir die Augen.“

Doch nach Jahrzehnten der Selbsthilfe gegenüber einem inkompetenten Staat dürften sich die Kongolesen anders als früher nichts mehr gefallen lassen. Aloys Tegera, Direktor des interkulturellen „Pole Institute“ in Goma, ist deswegen optimistisch, obwohl er nicht an ein Gelingen des Friedensprozesses glaubt. „In diesem Land regierten früher Angst und Unterordnung. Der Krieg hat das geändert, er war eine permanente Infragestellung des Bestehenden. Jetzt haben die Menschen keine Angst mehr. Sie stellen weiter alles infrage. Im Krieg äußerte sich das in Chaos, Gewalt, Blutvergießen. Morgen kann das ganz anders aussehen.“