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Archiv-Artikel

Einer ist der Chef auf dem Platz

Dass sich die Fußballbundesligisten aus Bremen und Hamburg erstmals seit Jahren wieder sportlich auf Augenhöhe begegnen, liegt auch an der Form ihrer Spielmacher: Die taz nord nimmt das Duell von Johan Micoud und Stefan Beinlich vorweg

von Jens Fischer

Individualismus– jein. Im Mittelpunkt hat die Mannschaft zu stehen. Der geschlossenen Leistung des Teams gilt es zu huldigen, dem Wir. Jeder für jeden, alle für einen: den Verein. So betonen es die Fußballlehrer, so müssen es die Spieler in die Fernsehkameras wiederholen.

Aber nie sind alle 22 Beteiligten eines Spiels gleichermaßen an Sieg und Niederlage beteiligt. Nie stehen alle Spieler gleichermaßen im Blickpunkt. Während die durchschnittlichen Oberlehrer der Medien den Durchschnittskicker für einen Durchschnittskick mit der Schulnote „3“ belobigen, werden die anderen, die Künstler unter den Kickern, für Durchschnittsleistungen mit einer „4“ abgestraft.

Denn fehlerfrei zu agieren ist keine Kategorie für die Überdurchschnittlichen, auf die das Spiel zugeschnitten ist: Selbst die modernste Taktik bleibt zentriert, richtet sich stets am primus inter pares aus – dem Spielmacher. Sein Individualismus ist sein Dienst an der Gemeinschaft. Er weiß, wann und wie er das Spiel zu forcieren, einzuschläfern oder zu verlagern hat. Langjährige internationale Erfahrung, glänzende Spielübersicht, schnelle Auffassungsgabe und ausgefeilte Technik muss er haben, um die Schlüsselrolle in der anspruchsvollen Kombinationsspiel-Moderne des Fußballs einnehmen zu können.

Dafür adeln ihn traditionsbewusste Vereine wie Werder Bremen mit der Rückennummer „10“. „Le chef“ wird die „10“ an der Weser genannt, heißt Johan Micoud, ist 32 Jahre alt, 1,86 groß, 82 Kilo schwer, verdient so drei Millionen Euro im Jahr. Er stammt aus Cannes, wurde mit Girondins Bordeaux französischer Meister und spielte anschließend beim italienischen AC Parma. Sein Antlitz ist dem gallischen Hahn nachgebildet. Seine Statur: feldherrisch aufrecht. Keiner weiß das Werder-Trikot auch noch in der 89. Spielminute so stolzgerade zu präsentieren. Seine Bewegungen: ein aufreizend lässiger Schreittrab-Jogging-Stil mit einer gehörigen Portion Sexyness. So künstlert Micoud an der Schaltstelle zwischen defensivem Mittelfeld und Angriff. Künstlert? Er stoppt die Lederkugel nicht, sondern versetzt sie mit einer eleganten Streicheleinheit des Fußes in den Ruhezustand. Während andere Pässe schlagen, schlenzt Micoud den Ball zentimetergenau in den Laufweg eines Kollegen. Sturmspieleröffnungen, die in ihrer Direktheit die Schönheit des Selbstverständlichen haben. Und manchmal derart ansatzlos zelebriert werden, dass sie die Kollegen verleiten, andächtig grummelnd stehen zu bleiben: geblendet vom Geistesblitz.

Micoud macht den Unterschied, sorgt für den ästhetischen Mehrwert, behandelt den Ball immer mit einer Portion Feingefühl mehr als die Kollegen. Seine Torvorlagen-Werte gehören zu den besten in Bundesliga und Champions League. Wenn Micoud einen guten Tag, also Lust hat, seinen Beruf auszuüben, dann ist Werder auf dem Weg zur europäischen Spitzenmannschaft. An schlechten Tagen wird „le chef“ aber zur Diva. Manchmal sind es die ersten Ballkontakte, die über Weh und Ach, Oooh und Oho des Herrn Micoud entscheiden.

Im letzten Bundesligaheimduell gegen den HSV verdribbelte er sich gleich zu Spielbeginn. Kurz darauf ging er extra einen Schritt zurück, wollte den Ball im Mittelfeld stilvollendet an seiner Brust abtropfen lassen, als ihm der böse Bube Raphael Wicky vor die Füße lief, die Kugel wegköpfte. Frechheit. Demotivierend. Unmotiviert köpfte Micoud später in die eigene Hälfte – eine Steilvorlage für Mpenza, Jarolim nickte zum 0:1 ein. Micoud stand immer noch dort, wo seine Majestätswürde durch prolliges Ballwegnehmen beleidigt wurde.

Es sind Tage wie diese, an denen der Südfranzose selbstgefällig über das Feld spaziert, noch ein paar Ecken herein dreht und so schnell wie wortlos aus dem Stadioninneren flüchtet. Nicht, dass er sonst etwas sagen würde, aber nach einem lustlos verkickten Nachmittag schweigt er besonders grimmig-innig. Schwieg. Denn die Launen und Miesepetrigkeiten sollen der Vergangenheit angehören. Vor drei Monaten beendete Micoud offiziell seinen fast einjährigen Medienboykott und gab erstmals sogar Kurzinterviews auf Deutsch. Mit dem Verlust der Scheu vor der Öffentlichkeit ist der Spielmacher lockerer geworden, was sich auf dem Spielfeld mit konstant guten Leistungen widerspiegelt. Micoud ist auch körperlich endlich vollends fit und hat Spaß am Prinzip Werder. Das heißt, die Stürmer holen sich ihre Bälle auch mal selbst.

Torsten Frings treibt das Spiel unermüdlich nach vorn. Patrick Owomoyela und Christian Schulz schleppen die Kugel über die Außenbahnen zum gegnerischen Strafraum. Und wenn Micoud den langen Ball gerade mal nicht inszenieren möchte, nimmt ihm Tim Borowski die Arbeit ab. Die Nummer „10“ in Wartestellung. Aber nur die alte, also echte, also aktuelle Nummer „10“ darf auch am Sonntag gegen den HSV wieder mal etwas weniger dem Wir, ein bisschen mehr dem Ich frönen. Darf sich vor dem Spiel mit sich allein erwärmen, mal neben dem Spiel herspazieren, sich sogar mal zu einer Art Denkmalsbesichtigung ausblenden – wenn er dann mit einem plötzlichen Coup die Entscheidung herbei zwingt. Was ihm in dieser Saison häufig gelungen ist, weswegen Micoud auch wieder auf seine WM-Teilnahme 2006 hofft. Der französische Nationaltrainer Raimond Domenech hatte in zehn Qualifikationspartien 34 Spieler eingesetzt, aber die Leistungen des Weltmeisters von 1998 blieben derart dürftig, dass alte Haudegen zurückgeholt wurden, zuletzt sogar das enfant terrible Anelka wieder spiele durfte. Auch deswegen wird man Micoud am Sonntag in Bestform erleben.