: Die Kleinen und die Bösen
POP UND DEBATTE Am Wochenende gab es im Berliner Hebbel am Ufer unter dem Titel „Life is Live“ Musik, Diskurs und Performance
VON JULIAN WEBER
1996 war das Jahr, in dem der Traum von der kommerziell erfolgreichen Schallplatte zerbröselte. Einkünfte aus Konzerten und Tourneen waren erstmals höher als die der Tonträgerbranche, Festivals wurden zum lukrativen Geschäftsfeld. Um dieses Schlüsseljahr des strukturellen Wandels herum hat der britische Soziologe Simon Frith ein nützliches Modell des Davor („model of doom“) und Danach („model of boom“) entwickelt.
Am Freitagabend trug Frith seine Thesen zur Eröffnung der Diskussionsveranstaltung „Life is Live“ im Berliner HAU-Theater vor. Der an der Universität Edinburgh forschende Wissenschaftler ordnete und analysierte in seinem Vortrag „The Value of Live Music“ den Musikmarkt und das korporative Konzertwesen. Staatliche Stellen in Großbritannien haben die Rockfestivalsaison zur höchsten ökonomischen Priorität erklärt und handeln in Absprache mit Tourismusbranche und Getränkeherstellern, führte Frith etwa aus. Obacht Bundeskartellamt: Ein Konglomerat aus Tourveranstaltern und Ticketgroßhändlern (wie etwa die Firma Live-Nation) trachtet in Großbritannien, aber bereits auch in den Beneluxländern zunehmend nach dem Erwerb von Filetstück-Immobilien in Form größerer Konzerthallen und Clubs. Was diese Konzentration für Auswirkungen auf das unkommerzielle Musikleben oder widerständige Pop-Positionen hat, wagt man sich kaum vorzustellen.
An den Eckpfeilern „Musik, Diskurs, Performance“ ist die vom ehemaligen Spex-Chefredakteur Christoph Gurk kuratierte zweitägige Veranstaltung „Life is Live“ ausgerichtet. Weitere Folgen sind bereits angekündigt. Die kleine Portionierung, neben dem Eröffnungsvortrag fanden zwei Diskussionsrunden und im Anschluss jeweils Konzerte statt, trug zum besseren Verständnis bei. Ohnehin ist Gurk Garant für den Kurzschluss von Debatte mit interessanter Musik.
So gab der US-Musiker Panda Bear – dahinter verbirgt sich Noah Lennox von Animal Collective – sein Konzertdebüt in Deutschland. Seine entrückte, durch Halleffekte verfremdete melodische Autoradio-Gesangsstimme prallt auf harsche Lärmkaskaden und Sampleloops. Auch wenn Panda Bear seine schönsten Songs an diesem Abend gar nicht aufgeführt hat, sein Set verknüpfte archetypische Teeniebopper-Unschuld mit Circuit-Bending-Ästhetik und landete, unterstützt von Lightshow und Flimmerfilmmontage, in einem eigenen musikalischen Feld.
Gurk schlug in seiner Einführung wiederum den Bogen vom Entertainment-Boom zum linken Evergreen Gentrifizierung. Popdiskurse wurden in der jüngeren Vergangenheit gerne verächtlich gemacht, in dem man ihnen jedwede politische Strahlkraft absprach. Das war in der Diskussionsrunde „Wie das Live-Geschäft urbane Räume verändert“ anders. Hier erläuterte der Hamburger Musiker Ted Gaier anhand der symbolischen Aktionen um das besetzte Hamburger Gänge-Viertel, wie sich der Kampf um Freiräume seit den Auseinandersetzungen um die besetzten Häuser in der Hafenstraße gewandelt hat. Was Mitte der 80er noch als militant galt und im Mainstream skandalisiert wurde, wird heute mithilfe bürgerlicher Medien romantisiert. Umso besser, wenn die Verschränkung von radikalen mit pragmatischen Inhalten zur Schaffung oder zum Erhalt von alternativen Kulturorten führt, so die einhellige Panelmeinung. Gentrifizierung sei ortsspezifisch, sagte der in der Antifa sozialisierte SPD-Politiker Björn Böhning. Während in der prosperierenden Handelsmetropole Hamburg stets Mangel an Räumen herrscht, habe Berlin, wo die Kreativwirtschaft für 20 Prozent des B.I.P. aufkommt, nach wie vor einen Überschuss an Leerstand. Der WMF-Clubbetreiber und ehemalige Hausbesetzer Gerrit Schulz erläuterte, wie sein Club seit der Wende in zig Ausweichmanövern und Zwischennutzungsverträgen diese Orte wechseln musste, aber seine Identität jeweils mitnahm. Trotzdem bezeichnete er sich als Opfer der Gentrifizierung.
Dem möchte der Stadtsoziologe Andrej Holm durch Strategien der Dislokation begegnen, in dem man boomenden Vierteln bewusst aus dem Weg geht, oder durch De-Attraktivierung von beliebten Orten. So viel wurde bei „Life is live“ klar: Die Stadt der Zukunft muss sich ihre Lebbarkeit aufs Neue erkämpfen, Popmusik wird dabei eine zentrale Rolle spielen.