: Der Aufpasser
AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN
Mit wenigen Handgriffen ist er bereit. Eine schwarze Wollmütze gegen die Kälte. Eine Taschenlampe gegen die Dunkelheit. Ein Handy für die Verständigung. Eine dunkelblaue Jacke mit dem Aufdruck „Gegenbauer Bosse Sicherheitsdienste“ für die Autorität. Zwei Schäferhunde, Kassy und Tabby, zur Abschreckung. Zwei-, dreimal am Tag, zweimal in der Nacht schaut Herrchen nach dem Rechten. Nach Graffitisprayern, nach Einbrechern, nach falsch geparkten Autos, nach unbekannten Gesichtern. Dirk B. geht auf Streife.
Sein Revier ist ein kleines Viertel im Norden von Berlin-Lichtenberg. Eine dunkle Ecke, versteckt hinter einer Eisenbahnunterführung im Schatten der sechsspurigen Frankfurter Allee, der Verlängerung der Karl-Marx-Allee, dieser Prachtmeile der DDR-Architektur, die zum Alexanderplatz führt. Das Zentrum der Stadt scheint weit entfernt vom Kietzer Weg, dem Zuhause von Dirk B. Hier sind nur zehn Stundenkilometer erlaubt, eine kopfsteingepflasterte Sackgasse, die nach einer weiteren Unterführung in einen kleinen Park mündet. Links erhebt sich eine Böschung, oben donnern S-Bahnen vorbei. Auf der rechten Seite reiht sich ein hoher Metallzaun an den nächsten. Dahinter verbirgt sich eine Hand voll Firmen. Wohnhäuser gibt es im Kietzer Weg gerade mal zwei. Eins davon gehört Dirk B.
An der Gartentür warnt ein Schild. „Bewacht durch Securicor Sicherheitsdienst. Betreten des Grundstücks auf eigene Gefahr. Achtung, bissige Hunde!“ Läuft jemand am Zaun entlang, erfassen Sensoren die Bewegungen und schalten die Beleuchtung an. Eine Videokamera zeichnet ungebetene Gäste oder ahnungslose Passanten auf, die der Bewegungsmelder ins Rampenlicht bringt. Ein Mikrofon schneidet mit, wenn eine S-Bahn oder eine Person auftaucht.
Lebt Dirk B. in einer Gefahrenzone, in einer von der Polizei vergessenen Gegend, wo das Gesetz der Straße regiert und sich jeder selbst der Nächste ist? Im Kietzer Weg passiert nicht mehr und nicht weniger als anderswo. Dirk B. aber empfindet das anders. Der Zaun vor seinem Grundstück wurde einige Male beschmiert, Diebe sind ihm und einigen Nachbarn aufs Dach gestiegen, im vergangenen Jahr wurde der BMW-Cabrio seiner Ex, „ein seltenes Stück“, bei einem Garageneinbruch mit einem Feuerlöscher ruiniert. Weil Dirk B. keine Teilkasko hat, übernahm die Versicherung nicht die Kosten. „Da war Schluss mit lustig“, sagt er. Seitdem geht er mit Tabby und Kassy auf Kiezstreife. „Ich gehe Gassi und treffe durch einen dummen Zufall Einbrecher. Ich bin sowieso unterwegs. Das ist ein Abwasch.“
Anfang November meldete die Pressestelle der Berliner Polizei: „Gestern Abend gegen 20 Uhr haben fünf zunächst Unbekannte in der Tasdorfer Straße in Lichtenberg einen 19-Jährigen aus demselben Bezirk mit einem Schlag zu Boden gebracht. Danach traten die Täter ihm mehrfach ins Gesicht und forderten seine Uhr sowie sein Handy. Auf ihrer Flucht konnten vier der fünf Räuber von einem Anwohner mit seinen zwei Hunden gestellt und bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten werden.“
Dirk B. kennt das Opfer. Er kennt viele der Jugendlichen, die in den Zehngeschossern am Rande des Parks hinter dem Kietzer Weg wohnen. Trifft er sie auf seinen Streifen, erzählen sie ihm im Schatten der Hochhäuser von ihren Problemen. Von der Ausbildung, von ungewollten Schwangerschaften, Schwangerschaftsabbrüchen. Manchmal muss Dirk B. auch laut werden. Wenn Tabby und Kassy wieder mal einem Fahrrad oder einem Kinderwagen hinterherjagen, brüllt er sie zurück. „Die wollen nur spielen“, erklärt er dann lachend.
Eine Boulevardzeitung lobte zwei Tage später den Einsatz von Dirk B. „Vor seinen Hunden standen die feigen Schläger stramm.“ Die Berliner Zeitung titelte „Tabby und Kassy hielten Räuber in Schach“. Dirk B. über die Aktion: „Da hab ich zu den Hundchen gesagt, sie sollen ein bisschen aufpassen, und zu den Tätern hab ich gesagt, wenn ihr wegrennt, dann beißen sie euch entweder den Arsch oder die Eier ab. Da sind sie von alleine stehen geblieben.“
Ansonsten ist er auf den Einsatz nicht besonders gut zu sprechen. Er hat danach Ärger wegen Kassy und Tabby bekommen. Dirk B. zahlt nämlich keine Hundesteuer. „Jetzt hab ich das Finanzamt am Arsch“, klagt er. „Zahlen Sie mal Hundesteuer von Hartz IV!“ Noch diskutiert er mit der Behörde über das Alter der Hunde und die nachzuzahlende Summe. Deshalb will er nicht mehr mit seinem Nachnamen in der Zeitung erscheinen und auch auf dem Foto nicht zu erkennen sein.
Dirk B. sitzt in einem kleinen Zimmer in der oberen Etage seines verwinkelten, unaufgeräumten Hauses. Auf einem Schreibtisch ein Computer, auf dessen Bildschirm eine nackte, üppige Blondine auf allen vieren als Standbild posiert. Auf dem Couchtisch ein Teller mit Wurstbroten, daneben ein überquellender Aschenbecher. Auf dem grauen Teppichboden eine Flasche Jim Beam und die Katzen Felix und Taiga. Nicht ohne Stolz erzählt der 36-jährige drahtige, kleine Mann, der jünger aussieht, von seiner Jugend. „Ich hab meinen Eltern ganz schön das Leben schwer gemacht und musste öfter stiften gehen.“
Der Tatort damals: Lichtenberg. Nicht weit vom Kietzer Weg entfernt ist Dirk B. aufgewachsen, hat er Schaufensterscheiben eingeschlagen, „Leuchtstoffröhrenweitwurf aus dem achten Stock“ veranstaltet, einen An- und Verkauf ausgeräumt. Manchmal sind auch die Fäuste geflogen – eine Erklärung für seine krumme Nase.
Hin und wieder lässt er Gnade vor Recht ergehen. Wenn Sprayer, die er erwischt, noch Kinder sind. Dann bietet er ihnen an, nicht die Polizei zu rufen. Wenn sie mit einem Eimer Farbe wiederkommen, um die Schandtat wegzumachen und wenn sie ihm ein Pfand hinterlassen, ihr Handy zum Beispiel. Dirk B. findet das absolut legitim. „Ich war selber mal jung und habe Mist gebaut.“ Ihn ärgert aber, dass Lichtenberg im Unterschied zu anderen Berliner Bezirken keine so genannten Kopfprämien in Aussicht stellt für Hinweise, die zur Festnahme von Sprayern führen.
Dirk B. erzählt viel und gern aus seinem Leben. Die Mutter war Lehrerin, der Vater „ein hohes Tier bei der Stasi“. Der habe ihn nach einer Berufsausbildung zum Zerspaner zu einem Ordnerdienst der Staatssicherheit gebracht, der bei Militärparaden, Fußballspielen und Konzerten für Sicherheit sorgte. Lässig zählt er auf, was er dort gelernt hat: Karate, Judo, Nahkampf, von hinten anschleichen, Gegner außer Gefecht setzen, Schwimmen mit Gepäck, Funkgeräte auseinander bauen und wieder zusammensetzen. „Wir waren wie eine Kampftruppe und wurden regelmäßig zu Einsätzen gerufen.“ Stolz gibt er zum Besten, wie sich manchmal die Gelegenheit für einen Nebenverdienst bot. Statt Schwarzmarktaktivitäten zu unterbinden und beschlagnahmte Gegenstände abzuliefern, wurde „der Scheiß“ zum An- und Verkauf gebracht. „Wir haben richtig böse Geschäfte gemacht.“
Nach der Wende witterte Dirk B. das große Geld. Er stieg in die Baufirma eines Freundes ein. Ein Tischler, der sich mit einem anderen Ostberliner und einem Westberliner zusammengetan hatte, der lange vor dem Mauerfall ausgereist war. Dirk B. rutscht beim Erzählen lebhaft auf seinem Stuhl hin und her. „Ich hab im Monat zehn- bis zwanzigtausend Mark verdient!“ Je länger man ihm vor der nackten Computer-Blondine zuhört, desto mehr Koffer mit Geldscheinen, Autos und Grundstücke schwirren durch das kleine Zimmer mit der Plastikverkleidung an der Decke.
Sein dickstes Ding? Plötzlich wird Dirk B. wortkarg. „Ach, lange her“, sagt er und winkt ab. Schließlich rückt er mit der Sprache raus. Indirekt. Er geht zum Regal, wühlt zwischen Papieren und kommt mit einem Stapel alter Zeitungsartikel zurück. Er wirft ihn auf den Couchtisch und lässt die Überschriften sprechen. „Mord an Autofahrer“. „Eiskalter Killer erschoss Mann durch Autoscheibe“. „Mann in Rudow mit Kopfschüssen hingerichtet“. „Polizei setzt 10.000 Mark Belohnung aus“.
Am 7. März 1994 hat der selbst ernannte Kiezpolizist einen Mord begangen. In der Baufirma hatte es Streit gegeben, der mit einstweiligen Verfügungen vor Gericht, auch mit den Fäusten ausgetragen wurde. Dirk B. spricht von seinem späteren Opfer als „dem Knilch“, der „mit seinen Möchtegerngorillas und Möchtegernzuhältern“ bei ihm eingeritten sei. Mehrmals habe er ihn gewarnt, ihn „einmal in seiner Wohnung zusammengefaltet“, dann war er mit seiner Geduld am Ende. Mit vier Schüssen hat er den Mann, der auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung war, auf offener Straße erschossen. 1995 wurde Dirk B. verurteilt, er kam mit neun Jahren Haft glimpflich davon. Das Gericht sah ihn wegen seines niedrigen Intelligenzquotienten als vermindert schuldfähig an.
Dem zuständigen Polizeiabschnitt in Lichtenberg ist Dirk B. bekannt. Doch die Beamten verweisen an die Pressestelle. Die teilt lapidar mit: „Herr B. führt diese Streifen im eigenen Interesse durch und betitelt sie dementsprechend. Die von ihm festgestellten Straftaten und die Kenntnisgabe an die Polizei sind nicht hervorhebungswürdig, da dies auch von jedem anderen mündigen Bürger erfolgen könnte.“ Wolfgang Mauermann, der Leiter des Lichtenberger Ordnungsamts, für das 32 Männer und Frauen in blauen Uniformen unterwegs sind, ist da weniger zurückhaltend. Mauermann hat nichts dagegen, wenn sich auch andere Bürger im öffentlichen Raum engagieren. „Aber hoheitliche Gewalt vorzuspielen ist nicht zulässig. Was der Mann da macht, könnte Amtsanmaßung sein.“ Dirk B. weiß, dass er bei den Behörden keinen guten Ruf hat. „Die kennen meine Akten und nehmen bestimmt an, ich hab ein Rad ab.“
Die tödlichen Schüsse verteidigt er noch heute. „Ich musste mein Eigentum schützen. Da muss man sich nicht wundern, wenn man zur Selbstjustiz greift.“ Nur die Bescheinigung eines geringen Intelligenzquotienten wurmt ihn. „Wie kann so jemand zum Amtsgericht gehen, bei einer Zwangsversteigerung ein Haus kaufen und bar bezahlen?“, fragt er herausfordernd. Das Haus im Kietzer Weg, in dem er seit seiner Entlassung 2002 wohnt, gehörte vorher seinem Kumpel, dem Tischler aus der Baufirma. Der verbüßt wegen Anstiftung zum Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe. Vor dem Mord war Dirk B. ein Grundstück versprochen worden. Das hat er nun. Und darauf passt er auf.