„Wir sind die neuen Deutschen“

INTERVIEW SABINE AM ORDE
UND STEFAN REINECKE

taz: Ist Deutschland Ihre Heimat?

Ahmet Iyidirli: Ich habe bis zum Abitur in der Türkei gelebt. Seitdem haben mich die Deutschen immer wieder gefragt: Wann gehst du zurück? Bist du noch Türke? Jetzt bin ich 31 Jahre hier und sage: Ich bin Berliner. Auch wenn das der Mehrheitsgesellschaft nicht passt.

Güner Balci: Ich bin in Berlin geboren, meine Muttersprache ist Deutsch, meine Heimat ist Deutschland. Ganz einfach.

Yüksel Yolcu: Nein, so einfach ist das nicht. Ich bin eigentlich Aserbaidschaner, da kommen meine Vorfahren her. Meine Eltern sind aus der Türkei hierher gekommen. Am liebsten rede ich aserbaidschanisch, türkisch natürlich auch. Ich habe in Paris studiert. Und ich lebe seit 34 Jahren in Deutschland. Ich bin Schauspieler und Regisseur und kann Goethe inszenieren und ein orientalisches Märchen. Das ist ein Reichtum. Trotzdem fragt man sich manchmal: Wer bin ich?

Und?

Yolcu: Ich bin 99 Prozent türkisch. Ich rieche so, ich schmecke so, ich träume türkisch. Da kann ich doch nicht sagen: Ich bin deutsch.

Balci: Ich schon. Deutsch ist meine Erstsprache, Türkisch habe ich später gelernt. Das zählt – und nicht, dass ich nicht wie eine Preußin aussehe. Deutschsein ist nichts Fixes. Das verändert sich. Und wir, die Nachkommen der Migranten, werden dieses Land weiter verändern. Dieses Land – nicht die Türkei. Deutschland ist mein Land. Hier sind meine Wurzeln.

Yolcu: Ihre Wurzeln sind nicht in Deutschland. Die sind in Ostanatolien …

Balci: Das ist nicht wichtig. Um anderen begreiflich zu machen, wer ich bin, muss ich nichts von meinem Urgroßvater erzählen.

Yolcu: Hey, Sie haben schwarze Haare, schwarze Augen – und erzählen mir: Ich bin deutsch …

Balci: Muss ich dafür blond sein?

Yolcu: Es klingt in meinen Ohren einfach merkwürdig, wenn Sie sagen, ich bin deutsch.

Balci: Weil Sie zu starre Bilder haben, was deutsch und was türkisch ist. Da passe ich nicht rein.

Iyidirli: Wir sind die neuen Deutschen. Es gibt in Berlin hunderttausende, die wie ich nicht hier geboren sind, aber schon Jahrzehnte hier leben. Wenn wir sagen: „Wir sind Berliner“, dann machen wir damit die alte Definition der Mehrheitsgesellschaft, wer deutsch ist, kaputt.

Yolcu: Irgendwie zeigt doch schon das Thema dieses Gesprächs, wie wenig zwischen Deutschen und Migranten passiert ist. Jetzt sind wir schon vierzig Jahre hier – und ihr Deutsche fragt uns immer noch: Fühlt ihr euch als Türken oder als Deutsche? Das ist doch traurig.

Balci: Wieso? Wenn die Mehrheitsgesellschaft uns das fragt, zeigt das ihr Interesse. Was ist daran falsch?

Yolcu: Was die deutsche Gesellschaft nie tut, ist die Leistung der ersten Generation der Migranten, also unserer Eltern, anzuerkennen. Sie sind hierher gekommen, ohne die Sprache zu können, sie haben eine ungeheure Einsamkeit auf sich genommen, damit wir mehr Chancen haben. Mein Vater hat 30 Jahre in der Fabrik gearbeitet, ich inszeniere an deutschen Theatern. Darauf bin ich stolz.

Balci: Es gibt aber sehr viele, die gar nichts erreichen: keinen Schulabschluss, keine Ausbildung, keinen Job. Es gibt eine dramatische Ghettoisierung. Ich bin noch überzeugte Neuköllnerin, weil ich denke, dass es fatal ist, wenn alle, die es sich leisten können, dort wegziehen …

Yolcu: Wenn Sie aus Paris nach Neukölln kommen, erscheint Ihnen alles wunderbar intakt …

Balci: Ja, aber wenn die Ghettoisierung so weitergeht, ist die Banlieue die Zukunft. Das hat mit der zweiten und dritten Generation zu tun. Die Eltern sind oft gescheitert, die Kinder wollen auf keinen Fall deutsch sein, weil sie dann das Gefühl haben, sich verraten zu haben. Türken sind sie aber auch nicht.

Warum ist die Sprachkompetenz in der dritten Generation geringer als in der zweiten?

Balci: Ich hatte das Glück, dass es früher noch eine Mittelschicht in Neukölln gab. Die Klassen waren durchmischt. Die meisten Kinder waren Deutsche, dazu kamen Türken, Araber und Jugoslawen. Die Mischung stimmte. Das ist heute anders. Es gibt fast nur noch Migrantenkinder, die schlecht deutsch und schlecht türkisch sprechen.

Iyidirli: Zu sagen, die Kinder lernen kein Deutsch mehr, weil die Eltern mehr türkisches TV schauen, das ist zu einfach. Es liegt an den Schulen. Die Bildungschancen für Migrantenkinder sind dramatisch schlechter geworden. Das ist das Hauptproblem. Deshalb gehören bei den Deutschen 15 Prozent zur Unterschicht, bei den Migranten 70 Prozent.

Haben Sie Diskriminierung am eigenen Leib erfahren?

Yolcu: Kürzlich habe ich in Gera „Viel Lärm um nichts“ von Shakespeare inszeniert. Der musikalischer Leiter war Kambodschaner, die Bühnenbilderin war Türkin. Die Proben waren schwierig. Ich dachte, die Schauspieler haben bloß keine Lust. Ich habe Monate später einen Schauspieler gefragt: „Sag mal, wieso klappt das so schlecht?“ Und er hat gesagt: „Weil es einigen Schauspielern nicht gepasst hat, dass ihnen Türken und Kambodschaner Shakespeare erklären.“ Ich bin aus allen Wolken gefallen. Seitdem bin ich um eine Illusion ärmer.

Und jetzt?

Yolcu: Ich weine deswegen nicht ins Kissen. Aber ich weiß, wenn ich nächstes Mal inszeniere: Okay, das ist möglich.

Wie ist es bei Ihnen, Frau Balci?

Balci: Ich habe kürzlich mit einer Jugendgruppe in Marzahn gearbeitet und bin dort auf betonfeste Vorurteile geprallt. Es hat mich genervt, aber ich fühlte mich nicht diskriminiert.

Warum nicht?

Balci: Weil das für mich genauso war, wie wenn jemand zu Ihnen Scheißkanake sagt. Da würden Sie sich auch nicht gemeint fühlen. Das mache ich auch. Dies ist mein Land.

Iyidirli: Ich habe im Wahlkampf eine interessante Erfahrung gemacht – und zwar in Kreuzberg und in Friedrichshain, also in West- und Ostberlin. Die meisten Jüngeren haben positiv darauf reagiert, dass ich für den Bundestag kandidiere. Das wäre vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen.

Sie sehen also keinen Rückschritt in der Haltung gegenüber den Migranten?

Iyidirli: Nein, es gibt viele Fortschritte, die aber unheimlich langsam sind. Es gibt massive Probleme mit Bildung und Arbeit. Und leider grobe Verallgemeinerungen in der Debatte um Zwangsheiraten und Ehrenmorde, die dazu führen, dass man mir nach dem zweiten Bier sagt: „Ihr Türken unterdrückt doch eure Frauen.“

Balci: Ich finde es gut, dass endlich über Zwangsverheiratungen und Unterdrückung von Frauen geredet wird. Dafür hat sich lange niemand interessiert. Klar sind Verallgemeinerungen übel. Aber das ist besser als Schweigen.

Iyidirli: Aber es bringt nichts, wenn pauschalisiert wird. Im Gegenteil. Die Mehrheitsgesellschaft und die türkischen Gemeinden müssen gemeinsam etwas tun. Wer pauschal alle türkischen Männer verdächtigt, verhindert das doch gerade.

Yolcu: Ich bin einfach fassungslos, wenn ich über Ehrenmorde in der Zeitung lesen. Oder höre, dass die türkischen Frauen noch immer jungfräulich in die Ehe gehen müssen. Unbegreiflich …

Balci: Da denken Sie aber sehr deutsch …

Yolcu: Stimmt.

Spielen türkische Traditionen in Ihrem Leben eine Rolle?

Balci: Die Sprache, die Küche, die Musik. Das bedeutet mir was. Aber keine verstaubten Werte.

Iyidirli: Für mich ist wichtig, dass meine Tochter türkisch spricht. Dass sie die Kultur kennt, dass sie türkische Musik von afrikanischer unterscheiden kann. Und dass sie die Verwandten in der Türkei kennt.

Yolcu: Die Familie ist wichtig. Früher habe ich zu meinem Vater gesagt: „Papa, lass mich in Ruhe mit deiner Sippe.“ Das ist heute ganz anders. Familie ist das Schönste, was es gibt.

Was sonst möchten Sie an Ihre Kinder weitergeben?

Yolcu: Meinen Sohn würde ich beschneiden lassen.

Iyidirli: Ich auch.

Balci: Weil Jungen da so richtig als Paschas gefeiert werden? Sie kriegen ein Prinzenkostüm an und alle klatschen in die Hände.

Yolcu: Nein, das sehen Sie falsch. Es ist einfach schön.

Es gibt wenige Leute mit Migrationshintergrund, die es hierzulande in die Elite in Politik, Medien und Wirtschaft geschafft haben. Warum?

Iyidirli: Wir dürfen nicht vergessen, dass Integrationsprozesse sehr, sehr langsam laufen. 30 Jahre ist nicht lang. Hinzu kommt: Als ich nach Deutschland kam, hatte ich eine Aufenthaltserlaubnis immer nur für ein Jahr. Es ist schwer, eine Zukunft aufzubauen, wenn man nicht weiß, ob man demnächst rausfliegt. Überdies dürfen Migranten erst seit Ende der 80er als Selbstständige arbeiten. Wir haben da also erst seit 15 Jahren so etwas wie Normalität. Yolcu: Ich würde die Frage gerne umdrehen. Angenommen, die taz muss sich zwischen einer Türkin, die nicht so gut deutsch spricht, und einer Deutschen als neue Redakteurin entscheiden: Wer bekommt die Stelle?

Die Deutsche natürlich. Journalisten müssen die Sprache beherrschen.

Yolcu: Aha, interessante Antwort. Dann dürfte Herr Iydirli also auch kein Politiker sein, denn er spricht ja gebrochen deutsch?

Umgekehrte Frage: Würden Sie jemand als Othello besetzen, der nicht perfekt deutsch spricht?

Balci: Ich glaube nicht, dass es an mangelnder Qualifikation oder Sprache liegt. Viele Migrantenkinder zögern, in Deutschland Karriere zu machen. Dann gehen sie eben doch lieber zu Hürriyet als zur taz.

Warum?

Weil vielen das Selbstvertrauen fehlt. Noch. Ich glaube, das wird sich bald ändern.