„Wir werden gefüttert“

QUALITÄT Für Sarah Wiener sind Essen und Kochen hochpolitische Angelegenheiten. Ein Gespräch über Beißer und Schlucker, die wahre Elite – und den Geruch von selbst gebackenem Brot

■ Die Köchin: Wiener besitzt mehrere Restaurants und ist seit Jahren Dauergast zahlreicher Kochshows. Mit einem PC-Spiel macht sie schon Kleinkindern das Wiener Bioschnitzel schmackhaft.

■ Der Mensch: Auf Schulabbruch, Sozialhilfe und Gelegenheitsjobs folgte die Wende in Form eines Dinners, von dem die eingeladene Schauspielerin Tilda Swinton so begeistert war, dass sie Wiener als Caterin engagierte. Die kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener schmeckten auch dem Schauspieler Peter Lohmeyer, mit dem sie seit 2008 verheiratet ist.

GESPRÄCH EDITH KRESTA
FOTO OLAF BALLNUSS

sonntaz: Frau Wiener, sonst kennt man klassische Kochbücher von Ihnen. Nun haben Sie ein Buch mit dem Titel „Zukunftsmenü“ geschrieben. Sind Sie nun zur Ernährungsexpertin geworden?

Sarah Wiener: Ich bin als Köchin bekannt und nicht als Ernährungsexpertin. Ich habe in meinem Buch Fachleute über die Themen reden lassen, die mir wichtig sind. Tierhaltung, unseren Umgang mit den Böden, die ganze Nahrungsmittelkette. Mein Buch soll im besten Fall aufklären. Es ist ein Ratgeber im Sinne von: Hör auf dich selber, koch selber. Ein Denkanstoß.

Bio ist trendy …

Ich bin Bio-Botschafterin des Umweltministeriums. Ich habe meine Bio-zertifizierten Restaurants, ich hab meine eigene Biolebensmittel-Linie, weil ich glaube, dass wir in einer Gesellschaft, in der man nicht mehr aufs Land geht und mit den Bauern redet, den Leuten eine Zertifizierung an die Hand geben muss. Ich glaube auch, dass die meisten Menschen doch nicht so aufgeklärt sind über unsere Lebensmittel. Doch ökologischer Landbau wird die Zukunft sein.

Sie wurden schon als Jeanne d’Arc der Köche bezeichnet. Stört Sie das?

Nein, wenn ich nicht so ende wie sie. Ich war schon als Kind ein kleiner Querulant und Querdenker. Doch meine ernährungspolitische Auseinandersetzung kam erst, als ich nicht mehr nur gekocht habe, sondern per Zufall in die Öffentlichkeit gespült wurde und Leute mich fragten: „Frau Wiener, was ist Qualität?“ So hatte ich die Möglichkeit, mich öffentlich zu äußern: Das ist, dachte ich mir nach einer Runde von Eitelkeiten, eigentlich ein Geschenk. Ich nutze meine Bekanntheit für das, was mir wirklich wichtig ist.

Und das wäre?

Ich habe gemerkt, dass viel Köchinnen und Köche erstaunlich wenig über Nahrung und deren Herstellung wissen. Für mich selber war das auch ein langer, mühseliger Prozess.

Und dieser Prozess gehört nicht zur Kochkunst?

Für mich schon. Alle reden von Qualität, sie können Qualität aber nicht wirklich benennen.

Was ist für Sie, sagen wir, gutes Fleisch?

Welches Tier, welches Teil vom Tier, welche Rasse, was hat das Tier gegessen, wo ist es gestanden, wie ist es gezüchtet worden, wie ist es geschlachtet worden, wie ist es gelagert worden, was ist auf dem Transport passiert – und schließlich: Was koche ich wie daraus? Das sind ungefähr zehn Punkte, die Sie bedenken müssen, wenn Sie über die Qualität wirklich etwas sagen wollen.

Und mit diesen Kriterien sind Sie die Ausnahme in der Schar der Starköche?

Ich sehe wenige, die sich mit den Grundlagen unserer Nahrung so intensiv auseinandersetzen.

Was ist für Ihre Kollegen Qualität?

Da müssen Sie die Kollegen fragen. Für mich ist es auf jeden Fall nicht der Babysteinbutt oder das Kilo Albatrüffel.

In Ihrem Buch attackieren Sie vor allem die Nahrungsmittelindustrie.

Wir schwimmen als Fettauge auf der Suppe, wenn ich die ungerechte weltweite Verteilung von Lebensmitteln betrachte. Warum darf ich Sojafutter aus Brasilien importieren, dessen fruchtbare Böden beanspruchen, Regenwaldabholzung vorantreiben und damit einem armen Land Ressourcen abringen, die ich hier in meinen Land nicht zu erbringen gewillt bin? Um dann aber wieder die damit gefütterten Schweine aus der Massentierhaltung in andere Länder konkurrenzlos billig zu exportieren. Abgesehen von der vielen Gülle, die unsere Böden und das Grundwasser ruiniert. Das ist verfehlte Überproduktion, die aufhören muss. Ich finde, Fleisch wird viel zu billig verkauft. Wir essen alle viel zu viel Fleisch. Es sollte so viel mehr kosten, dass wir es uns gar nicht mehr jeden Tag leisten können und es schätzen lernen.

Ist das nicht ein bisschen elitär?

Die wahre Elite sind die, die sich selbst beschränken und ab und zu ein gutes Stück Fleisch genießen können, weil es nachhaltig erzeugt und artgerecht gehalten wurde. Bewusst zu genießen, das ist Elite. Aus einer Sache zwanzig Sachen kochen zu können und nicht aus zwanzig Sachen eine, das ist die Kunst beim Kochen.

Was sagen Sie zu den letzten Lebensmittelskandalen?

In der Agroindustrie haben wir heute die Situation, dass wirklich keiner mehr weiß, was wir essen. Es gibt bis zu dreihundertsechzig deklarierte Lebensmittelzusatzstoffe und weitere hundert Zusatzstoffe, die nicht deklariert werden müssen. Wir finden nichts dabei, unser Essen mit Aromastoffen, Geschmacksverstärker, Stabilisatoren und Konservierungsmitteln anzureichern und dann hineinzubeißen. Wir essen etwas und wissen nicht, was drin ist, wie es wo unter welchen Umständen erzeugt worden ist. Es gibt Profit, Betrug, Falschdeklaration, Medikamentenmissbrauch, Tierquälerei, die Erodierung von Böden, die Verseuchung von Wasser und Luft, Ausbeutung von Arbeitskräften. Am Ende schmeißen wir die Hälfte in den Müll. Essen und Kochen sind hochpolitische Angelegenheiten.

Sind Sie dann Politikerin?

Ich glaube, es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, mutig, anders, frech und möglichst groß zu denken und alle möglichen oder unmöglichen Szenarien durchzuspielen und wirklich gesellschaftspolitisch übergreifend zu diskutieren. Alles andere hilft uns nicht weiter.

Sie gelten als unkonventionell – ist das Widerständigsein Teil Ihrer Persönlichkeit?

Vielleicht. Ich glaube, am Ende ist es die Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. Ich bin genauso gierig und maßlos wie viele andere, undiszipliniert. Ich bin Teil der Gesellschaft, kein Stück besser. Aber ich merke, dass ich darunter leide. Unter meiner Gier, meiner Maßlosigkeit, meinem riesigen Kleiderschrank. Und ich leide darunter, wenn ich Lebensmittel wegschmeiße. Ich leide darunter, dass ich jeden Tag mehr Ressourcen zerstöre und daran, wie wir unsere Nutztiere behandeln. Und ich leide besonders unter schlechtem Essen.

Was empört Sie am meisten?

Eine Binsenweisheit: dass dem wirtschaftlichen Wachstum und der Gewinnmaximierung alles andere untergeordnet wird: Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität – obwohl wir längst begriffen haben, dass Wachstum endlich ist.

Was sind Ihre konkreten politischen Forderungen?

Die Deckelung der Subventionen für Agrarflächen. Noch besser: Keine landwirtschaftlichen Subventionen ohne nachhaltige, ökologische Gegenleistung. Verbot von sogenannten Pflanzenschutzmitteln, die Bodenmikroben, Insekten und Pflanzen den Garaus machen. Die Förderung von ökologisch bewirtschafteten Landwirtschaftsflächen und kleinbäuerlicher Strukturen. Bodengebundene Tierhaltung. Kein flächendeckender Medikamenteneinsatz. Unabhängige Forschung über die Qualität unserer Lebensmittel. Das ist doch alles ein Wahnsinn, das müsste geändert werden.

Wäre denn ein anders System vorstellbar?

Natürlich. Vorstellbar ist doch vieles. Dezentralisierung, Regionalität, Förderung der Diversität durch kleinbäuerliche Strukturen, Tauschkreise oder Genossenschaften, die sich in Land und Stadtkreisen bilden. Auch das Handwerk muss wieder aufleben und gestärkt werden. Nieder mit all den Backketten und dem globalisierten Industrieessen. Das ist die Absicht meines Buches: einen großen Bogen zu schlagen, den geneigten Leser selber drauf kommen zu lassen, dass wir im Grunde ein anderes System brauchen.

Und Sie hoffen, zu überzeugen?

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir wissen aber, dass wir so nicht weitermachen können. Die letzten vierzig Jahre hat sich mehr an unserer Nahrung geändert als in den 10.000 Jahren davor. Ich war als Kind noch auf dem Bauernhof und habe in verschiedene Zwetschgensorten von der Streuobstwiese gebissen und zugesehen, wie die Bäuerin Speck geräuchert hat, während der Bauer seine eigenen Tiere geschlachtet hat. Den Geruch von Speck und selbst gebackenem Brot vermisse ich.

Idyllisch. Aber wenn ein Kind das nie erlebt hat: Meinen Sie, es fehlt ihm?

Eben, das ist genau der Punkt. Wir versuchen ja alles, um dem Kind die Verbindung zum Natürlichen abzuschneiden. Wir haben normierte Fleischpackungen, wir dürfen keine Sehnen und keinen Blutfleck zeigen. Nichts soll an das Lebewesen erinnern. Es wird alles normiert, gepresst und so angeboten, dass wir es im Zweifelsfalle nicht mehr mit natürlichen Grundstoffen oder Tieren in Verbindung bringen können. Und ich sehe, dass hier eine Generation heranwächst, die sich zum Teil vor einem Apfel auf dem Apfelbaum ekelt. Das muss man sich mal vorstellen, und dort ist eine Industrie, die dabei ist, zu erforschen, wie man es chemisch schafft, fünf Apfelschnitze so in Plastik einzuschweißen, dass sie nicht braun werden und oxidieren. Was ist denn mit uns los?

Sie sagen, das alles ist ein Anschlag auf die Unversehrtheit des Körpers, auf grundlegende Menschenrechte.

Sehen Sie das anders? Wenn ich heute nicht tot umfalle, weil ich mit tausend Umweltgiften umgeben bin oder irgendwelche Enzyme in homogenisierter, pasteurisierter teilentrahmter Milch zu mir nehme, durch Chemie und Pharmakologie belastetes Fleisch, heißt das nicht, dass es mir und der Umwelt bekommt. Wir wissen wohl, dass unsere Art, zu essen, enorme Folgen für unsere Gesundheit und für künftige Generationen hat. Gar nicht zu reden von unseren Nutztieren und der Natur.

„Alle reden von Qualität, sie können Qualität aber nicht wirklich benennen“

Das heißt, Sie sind Maschinenstürmerin, was die Nahrungsherstellung betrifft. Wollen Sie zurück zum Handwerk?

Ich will nicht zurück zum Handwerk, ich will vor zum Handwerk! Das Handwerk wird die Zukunft sein, wenn wir Ressourcen schonen wollen, für Qualität, aber auch für die Respektierung und Würde der Menschen, die heute überall wegrationalisiert werden und sich dann nur noch den Billigdiscounter leisten können. Und so umgeben wir uns mit lauter Dingen, von denen man Augenkrebs kriegt, so grauenhaft sind sie.

Und Magenkrebs, oder?

Magenkrebs sowieso, und vertrotteln tun sie uns auch, die Sachen. Nein, im Ernst: Es wurden Lebensmittel mit einem enormen Aufwand, mit einer enormen Marketingmaschine und Lobbyismus auf den Markt gedrückt, die unsere Eltern gar nicht als Lebensmittel erkannt hätten. Damit wir irgendein gefärbtes, künstliches, konserviertes, geschmacksintensiviertes Zeug essen, das uns nicht glücklich macht, uns nicht befriedigt, uns nicht sättigt.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Kindern bei Tests der künstliche Erdbeerjoghurt immer besser schmeckt als der natürliche. Kann man das revidieren?

Schwer. Geschmack wird in der Kindheit festgelegt. Wir haben ein Geschmacksfenster wie fürs Sprachenlernen. Du musst dir eine Geschmacksbibliothek erarbeiten und anlegen, und das ist etwas sehr Unbewusstes. Du merkst schon, wenn du gestillt wirst, dass die Muttermilch jeden Tag einen anderen Geschmack hat, je nachdem, was die Mutter gegessen hat, und du sammelst so deine Erfahrung, deinen Reichtum. Wenn das aber so ist, dass du schon anfängst mit einer sterilen Milch, die jeden Tag gleich schmeckt, und dann gehst du zur ewig gleichen pasteurisierten Babykost über, dann sind aromatisierte, überzuckerte, übersalzene Fertiggerichte die logische Konsequenz. Was für ein Verlust! Wir verlernen auch immer mehr zu kauen: Gutes Essen fängt beim Kauen an.

Versuchen Sie mit Ihrer Stiftung, an Schulen Geschmack und kauen zu lehren?

Ich versuche mit meiner Stiftung ganz einfach, Kindern das Kochen beizubringen. Nur wer kochen kann, wird die Kontrolle über seinen eigenen Körper haben und kann überhaupt beurteilen, was er isst. Wenn du keine Kontrolle über deinen Körper hast, worüber willst du sonst Kontrolle haben? Wenn du dir nicht bewusst bist, was du dir ins Intimste deines Inneren hineinsteckt, wie willst du dann jemals bitte ein kritischer Mitbürger sein?

Was ist für Sie Genuss?

Zum Genuss gehört Beschränkung und nicht die ständige Verfügbarkeit auf Kosten der Qualität. Aber das ist immer schwieriger. Schauen Sie sich doch die vielen Mütter an, die zum Spielplatz ziehen wie in den Krieg: Kekse, Banane, Cracker, Teilchen. Und permanent wird dem Kleinen was zugesteckt. So lernt es keine Frustration, kein Warten, keinen Aufschub, keine Vorfreude. Aber auch keine Selbstverantwortung. So kann man kein natürliches Verhältnis zur Nahrung und zu seinem Körper aufbauen.

Sie meinen, wir verlernen zu genießen?

Unsere Art, zu essen, hat meist wenig mit Genuss zu tun. Es ist spannend, zu sehen, dass so viel Sößchen, Schäumchen, Samtsüppchen, Cremes, weiches Hühnerfleisch ohne Knochen serviert werden. Und dazu: immer Weißbrot. Weiches Brot, das man nur noch schlucken muss. Wie ein Vogelkindchen, dem man was in den Schlund hinunterschiebt. Wir werden gefüttert. Anstatt und selber zu nähren. Aber es gibt auch noch die Beißer, die wollen was spüren. Eine gute Messlatte für Nahrungsmittelqualität ist übrigens: Wie lange kannst du etwas beißen, und wie schmeckt es dann? Nehmen Sie ein aufgetautes Industriebrötchen gegen ein frisches handgemachtes Brötchen und beißen Sie rein …

Sind Sie Beißerin?

Wenn ich erschöpft bin, werde ich auch zur Schluckerin und esse am liebsten Brei mit Kompott oder Nudeln mit Soße. Das Leben hat eine Menge Zumutungen für uns parat. Da ist die Ernährung nur eine davon.

Edith Kresta ist taz-Redakteurin und beißt gerne in Herzhaftes